„So viele Absurditäten“

Warum es keine Geschlechtshormone gibt und eigentlich die ganze Hormonforschung neu gedacht werden müsste, hat Bettina Enzenhofer von der Biologin Sigrid Schmitz erfahren.

Illustration im Graffito-Stil mit Hauswand im Hintergrund, im Vordergrund der Schriftzug "We don't need no patriarchal education" und eine Frau mit verschränkten Armen
Illustration: CHRISTOPHER DOMBRES/Flickr – PATRIARCHY, CC0 1.0

Bettina Enzenhofer: Hormonforschung bewegt sich nicht in einem objektiven, voraussetzungslosen Raum, sondern wird unter anderem von Geschlechterverhältnissen beeinflusst. Schon der Name der sogenannten Geschlechtshormone bestätigt Geschlechterklischees und weist den Geschlechtern ihren Platz zu: So bedeutet das Wort „östrogen“ „die Brunst produzierend“ oder auch „verrückt“, „androgen“ bedeutet „einen Mann herstellen“. Was weiß man heute?

Sigrid Schmitz: Um es herunterzubrechen: Man weiß, dass der Name „Geschlechtshormone“ falsch ist, weil es keine Geschlechtshormone sind. Es sind Wachstumshormone. Testosteron beeinflusst Muskeln, Knochenaufbau, Herz-Kreislaufsystem – und zwar bei allen Geschlechtern. Östrogen beeinflusst auch Lunge, Leber, den Knochenaufbau. Knochenaufbau und Östrogen sind eng verschachtelt. Osteoporose als paradigmatische Erkrankung allein bei Frauen ist Unsinn. Dreißig Prozent der Osteoporose-Fälle sind Männer. Insofern hebt sich diese geschlechtliche Zuordnung auf, wenn man differenzierter schaut. Man weiß auch, dass die Testosteron-Konzentrationsunterschiede bei Erwachsenen und Jugendlichen unterschiedlichen Geschlechts ab der Pubertät im Schnitt höher sind. Aber nicht pränatal, nicht frühpostnatal, da gibt es diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern gar nicht so deutlich. Bei Frauen standen in der Forschung die zyklischen Östrogenschwankungen im Zentrum, aber man weiß mittlerweile, dass sich auch das Testosteronlevel von Männern im Lebensverlauf ändert, außerdem jährlich – im Frühjahr höher, im Herbst niedriger – und täglich zwischen morgens und abends. Man weiß also, dass das alles wesentlich komplexer ist.

Es gibt innerhalb der biologisch-medizinischen Forschung in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ein Umdenken. Beispiel Testosteron: Dass das Testosteron für das Verhalten verantwortlich wäre, wird überhaupt nicht mehr als lineare Beziehung gesehen. Die bio-soziale Verschränkung von Hormonlevel und Verhalten ist mittlerweile eigentlich Common Sense.

Also das Wechselspiel von Natur und Kultur: Es wirkt nicht einfach ein bestimmter Hormonspiegel auf Individuen, sondern Lebensumstände, Stress, körperliche Anstrengungen wirken auch umgekehrt auf den Hormonspiegel. Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Eine Riesendiskussion ist der Sport: Nicht nur Testosteron beeinflusst die Leistung, sondern auch das Training und die Erwartung eines Erfolgs oder Misserfolgs beeinflussen das Testosteronlevel. Es gibt eine ganze Reihe von Forschung darüber, wie der Status, die Wahrnehmung des eigenen Status oder das Verhalten in der Gruppe, was ja in sich schon geschlechtlich und intersektional geformt ist, sich auf das Testosteron auswirken.

Die Neurowissenschaftlerin Sari van Anders hat eine Studie mit Schauspielerinnen gemacht, die eine Entlassungsszene spielen, also jemanden entlassen sollten. Wenn sie das sehr dominant gemacht haben, was ja männlich konnotiert ist, stieg ihr Testosteronwert. Die Medien haben diese Ergebnisse so zusammengefasst: „Women: boost your testosterone“, um auf dem Markt der Leistungsgesellschaft erfolgreich zu sein. Die vergeschlechtlichten Dominanzstrukturen wurden von den Medien aber nicht hinterfragt. Und auch die Vorstellung, dass es dann wieder die Biologie ist, die bestimmt, was du machst – die bleibt bestehen, auch wenn angekommen ist, dass wir die Biologie modifizieren können.

Wie könnte eine kritische, feministische Hormonforschung aussehen?

Indem wir sie machen. Also das, was ich Embodiment nenne: die Zusammenhänge zwischen biologischen, sozialen, individuellen Erfahrungen und auch machtvollen gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen, intersektionalen Machtverhältnissen und kulturellen Normen, also die Symbolik der Zuschreibungen, wirklich zu erforschen.

Sari van Anders sagt: Eigentlich muss die ganze Forschung neu gemacht werden. Wenn wir davon ausgehen, dass Stress, sozialer Status etc. den Hormonlevel beeinflussen, dann ist es nicht unlogisch zu sagen: So früh wie Gender-Sozialisation in unseren Gesellschaften binär einsetzt, müssen wir eigentlich fragen, inwieweit das geschlechtlich unterschiedliche Grundlevel von Testosteron dadurch schon beeinflusst wurde. Wenn wir das intersektional betrachten, käme übrigens noch viel mehr dazu, man muss race, class, gender immer zusammen denken. Sari van Anders ist eine sehr bekannte Neuro-Endokrinologin, und ihre Aussage ist heute eigentlich das Provokativste in der bio-medizinischen Forschung. Ob das klappen wird, wissen wir noch nicht, weil es natürlich extremen Widerstand gibt. Und zwar nicht nur von der Bio-Medizin selber, da geht es ja dann immer um Wissensmacht, sondern einfach ökonomisch. Hormone sind ein riesiger Markt!

Stichwort Markt und Hormonbehandlungen: Wie ordnen Sie Diskurse rund um Menopause und Andropause ein – also die Abnahme der Produktion von Östrogen und Testosteron in den Wechseljahren, die ja nicht nur Frauen, sondern alle Geschlechter haben?

Auf einer individuellen Ebene können Hormonbehandlungen natürlich sinnvoll sein. Diese Medikamentierung steht aber in einer Logik der selbstverantwortlichen Optimierung, Beispiel Testosteronsubstitution. Und zwar sowohl hinsichtlich des Leistungsgedankens als auch mit der Vorgabe: Du musst für dich sorgen, auch gesundheitlich, weil du sonst dem Gesundheitssystem zur Last fällst. Also ein Aspekt der Anrufung einer eigenen Gesundheitsfürsorge für gesellschaftliche Belange. Letztlich steht der Diskurs unter dem Primat der Jugendlichkeit. Es geht genauso um Östrogen. Das gilt dann aber geschlechterübergreifend, weil das Östrogen die Hirnvernetzung bei allen Geschlechtern so gut unterstützen soll und die Östrogenlevel aller Geschlechter nach den Wechseljahren mit Medikamenten gepusht werden sollten. Auch hier gibt es viele ökonomische Interessen.

Die Bio-Medizin legt heute noch immer fest, welche Hormonlevel Frauen und Männer haben sollen. Eine Frau, die mehr Androgene hat, als die Medizin vorsieht, wird pathologisiert.

Ja. Und es wird absurd und hat enorme, diskriminierende, verletzende Auswirkungen, wenn man zum Beispiel an Testosterondebatten im Sport denkt und an den Vorwurf der Intersexualität.

Für inter und trans Personen kann die Substitution von Östrogenen oder Androgenen notwendig sein, wenn ihnen die hormonproduzierenden Keimdrüsen wie z. B. Hoden oder Eierstöcke entfernt wurden – oft ohne dass sie das selbst wollten.

Das ist ja die Problematik. Außerdem: Es ist ein ganzes Feld, wo individuelle, vollkommen legitime Entscheidungen für oder gegen eine Hormonbehandlung verunmöglicht werden. Und zwar immer in den Bereichen, wo es nicht dem binären Geschlechtermodell entspricht. Ob ich jetzt Testosteron nehme, weil ich eine tiefere Stimme haben will – egal ob ich mich als trans Person definiere oder nicht –, ist doch meine individuelle Entscheidung. Frauen sollen wie vorhin angesprochen zwar ihr Testosteron boosten, aber eine Person, die noch nicht volljährig ist, muss für Operationen ein elendslanges Verfahren durchlaufen, um die Erlaubnis zu bekommen, das zu machen. Das ist ein Feld mit so viel Absurditäten. Aber wenn man die Absurditäten genauer anschaut, wird deutlich: wenn es nicht dem machtvollen gesellschaftlich anerkannten Bild entspricht, oder nicht der klassisch heteronormativen Vorstellung von zwei Geschlechtern, werden Hindernisse und Verletzungen in den Weg gelegt. Das ist eine zentrale Linie, an der etwas erlaubt oder nicht erlaubt wird. Und da zeigt sich, dass das gesellschaftlich und kulturell ist – und nicht biologisch.

Sigrid Schmitz ist Biologin und forscht in den Gender & Science Technology Studies zu Hirnforschung, Neurokulturen und Neurotechnologien. In ihrem aktuellen Projekt Gendering MINT gibt es u. a. eine Lehreinheit zu Hormonforschung.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge VII/2020.

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