Sternenkinder
Ein Baby stirbt unerwartet kurz vor der Geburt im Bauch der Mutter. Oder ist nicht lebensfähig und stirbt kurz nach der Geburt. Es gibt kaum ein schlimmeres Trauma und doch haben wir keine gesellschaftlichen Traditionen, um den „Sterneneltern“ in dieser Situation beizustehen. Dabei könnte es eine schöne Geburt sein und ein heilsamer Umgang mit Erinnerung. Von Gabi Horak-Böck
Die Bettwäsche im Gitterbett ist überzogen, die Kuschelhasen auf dem Wickeltisch drapiert. Sie kann es kaum erwarten, ihr Baby endlich im Arm zu halten. Sie zieht an der Schnur des Mobiles über dem Bettchen, hört die Einschlafmelodie so gerne. Und der Zwerg im Bauch kann ja schon mithören. Es gefällt ihm, er tanzt mit. Morgens rollt sie sich früher als gewohnt aus dem Bett, der letzte Ultraschall vor dem Geburtstermin steht an. Sie sitzt im Wartezimmer, streichelt über ihren Bauch und lächelt. Zwerglein schläft heute länger, denkt sie. Gut so, er soll Kräfte sammeln für den großen Tag. Die Frauenärztin verteilt das kalte Gel über ihrem dicken Bauch, Dehnungsstreifen überall. Aber das ist es wert, denkt sie. Die Ärztin fixiert den Monitor, sie sagt nichts. Sie legt den Ultraschallkopf zur Seite. „Es tut mir so leid, aber ich kann keinen Herzschlag mehr erkennen.“ Zellensterben. Alles verschwimmt, sie kann nicht atmen, sich nicht bewegen. Schauen Sie nochmal nach. Nichts. „Ihr Baby ist gestorben. Das kommt manchmal vor, selbst so spät noch.“ Die Ärztin erzählt von Wahrscheinlichkeiten, von „Laune der Natur“, Geburt einleiten, Krankenhaus, Vergiftung. Sie kann sich nicht auf ihre Worte konzentrieren. Mein Baby ist tot.
517
Totgeburten und noch als Säuglinge verstorbene Babys sind eines der letzten großen Tabus in unserer Gesellschaft. Eine Umfrage im Freundes- und Bekanntenkreis würde ergeben, dass jede von uns betroffene Familien kennt. Es wird aber nicht darüber gesprochen. Hunderte Fotos von lebenden Kindern machen die Runde, stolze Eltern posten Familienfotos auf Facebook, Familie und Freund*innen gratulieren, bringen kleine Geschenke. Tot geborene oder sehr früh verstorbene Babys hingegen werden meist nicht als Teil einer Familie wahrgenommen. Doch auch die Mutter eines tot geborenen Babys ist Mama, körperlich, psychisch und ganz tief im Herzen. Auch sie sucht die Nähe ihres Kindes. Auch sie macht ihrem Kind Geschenke – Blumen und Windräder fürs Grab. Wenn über sie gesprochen wird, heißt es trotzdem: „Nein, sie hat noch keine Kinder.“
Im Vorjahr kamen in Österreich 79.330 Kinder lebend zur Welt. Statistisch kommen 3,4 tot geborene Kinder auf tausend lebend geborene. Das waren 2012 genau 272 Babys, die tot zur Welt kamen, weitere 245 starben noch im ersten Jahr, davon 111 am ersten Tag. Das sind 517 tote Babys insgesamt.(1)
Eine schöne Geburt
Es gibt wohlüberlegte und gut erprobte Rahmenbedingungen, wie diese Geburten und die Zeit danach gestaltet werden sollten, um den Müttern und Vätern die oft schwerste Zeit ihres Lebens zu erleichtern. Praktische Anwendung finden sie jedoch nur teilweise in manchen Geburtskrankenhäusern. Viele Mütter sind nach ihrem Geburtserlebnis stattdessen tief unglücklich und erfahren erst im Nachhinein von anderen Betroffenen, wie es hätte sein können. Es bräuchte unbedingt mehr ausgebildete Hebammen und Ärzt*innen, die genau wissen, was sie tun müssen. Die Eltern stehen unter Schock, können ihre Gedanken und Bedürfnisse selbst kaum artikulieren. Das professionelle Team muss hier aktiv werden und Anleitung geben.
Im ersten Schock ist es undenkbar: Mein Kind „normal“ zur Welt bringen, stundenlange Wehen, Blut und Tränen und schließlich ein totes Kind im Arm halten, oder eines, das in meinen Armen stirbt. Nicht auszuhalten. Manche Frauen entscheiden sich deshalb für einen Kaiserschnitt und gegen Kontakt. Psycholog*innen aber empfehlen die „natürliche“ Geburt: Der Geburtsvorgang sei sehr wichtig fürs Abschiednehmen. Diese wenigen Stunden mit dem toten Kind sind die einzigen, die Eltern haben. Es ist alles, was bleibt. Dieses Bild vom Kind ist das einzige, das es jemals geben wird. Diese Berührungen, diese Küsse bleiben die einzigen und letzten. Deshalb schildern Eltern diese Stunden der Geburt bzw. mit ihrem Kind oft als wunderschön – auch wenn das zuvor nicht vorstellbar war.
Wenige Stunden
Das professionelle Team kann sehr viel tun, um den Eltern diese schöne Geburt zu ermöglichen. Die Geburt findet intim statt. Es braucht keine CTG-Überwachung, keine regelmäßige ärztliche Kontrolle. Sofern es der Mutter körperlich gut geht, sind Eltern und Hebamme unter sich. Schon im Vorfeld müssen die Eltern erinnert werden, woran sie denken müssen: Fotoapparat mitnehmen, Geschenke für das Kind, Babykleidung. Es ist auch vorweg zu überlegen, ob Geschwister, Großeltern etc. das Baby auch sehen sollen, ob es Familienfotos auch mit ihnen geben soll. Sobald das Baby da ist, haben die Eltern nur wenige Stunden, um so viele Erinnerungen zu sammeln, wie es geht. Allem voran: Fotos machen. Wenn überhaupt, dann machen Kliniken oft nur relativ lieblose Fotos vom toten, nackten Kind. Aber es braucht schöne Familienfotos. Und zwar so viele wie möglich, denn es sind die letzten. Die Eltern sollen ihr Baby – sofern möglich – anziehen können, vielleicht auch baden, in ihre eigene Decke einwickeln. Sie brauchen Zeit und Ruhe, um Zärtlichkeiten auszutauschen, ihrem Baby Lieder vorzusingen. Manchmal ist es sogar möglich bzw. wird ermöglicht, dass Eltern ihr Kind auch am nächsten Tag noch einmal sehen, um es dann auch anderen Familienmitgliedern zu zeigen. In Spitälern, in denen aufgrund mangelnder Erfahrung große Unsicherheit herrscht, tendiert das Geburtsteam dazu, die toten Kinder schnell wegzubringen. Sie agieren unsicher und wirken mitunter selbst überfordert.
Es gibt natürlich auch Mütter, die es anders beenden. Sie wollen die Geburt hinter sich bringen, ihr Kind nicht sehen, nicht beerdigen. Einfach weitermachen. Auch dieser Wunsch ist zu respektieren. Das Geburtsteam sollte hier trotzdem über alle Möglichkeiten informieren und auch bis zum Schluss parat haben. Denn manche entscheiden sich erst nach den Presswehen, dass sie ihr Kind doch sehen und halten wollen. Und wenn die Eltern dann keinen Fotoapparat da haben, muss das Team einen anbieten können.
Gegen das leere Fotoalbum
Das Leben von Kindern wird meist in hunderten Fotos in unzähligen Fotoalben und Speichermedien festgehalten. Totgeborene oder kurz nach der Geburt gestorbene Babys füllen keine Fotoalben. Oft gibt es selbst von den wenigen Stunden, in denen sie bei den Eltern waren, keine oder nur schlechte Fotos. Erst Wochen oder Monate später macht den Eltern diese Lücke schwer zu schaffen, die wichtigste Erinnerung im Kopf – das Gesicht meines Kindes – verblasst.
Ende 2013 hat ein Sternenpapa in Deutschland mit dein-sternenkind.eu eine Plattform gegründet, über die professionelle FotografInnen sich in eine Datenbank eintragen lassen können. Kommen Eltern in die Situation, nur kurze Zeit mit ihrem (toten) Kind zu haben, können sie FotografInnen anfordern, die kostenlos Fotos machen. „Die Bilder müsst ihr euch nicht sofort ansehen, aber sie werden da sein, wenn ihr bereit seid, sie anzuschauen. Sie werden euch in eurem Trauerprozess eine wertvolle Stütze sein“, heißt es auf der Website. „Für diese Art von Bildern gibt es leider keine zweite Chance.“
Das einzigartige Angebot hat in kürzester Zeit hohe mediale Aufmerksamkeit in Deutschland erreicht. In der Datenbank sind derzeit über 300 FotografInnen gelistet, vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich und in anderen Ländern Europas. Derzeit wird an einer österreichischen Variante der Online-Plattform gearbeitet.
500 Gramm
Wann hat ein Kind gelebt? Aus rechtlicher Sicht wurde diese Frage beantwortet. Kommt ein Baby auf die Welt und es sind unmittelbar nach der Geburt Lebenszeichen nachweisbar, so gilt es als Lebendgeburt. Das Kind braucht einen Namen, es bekommt eine Geburtsurkunde und nach dem Tod eine Sterbeurkunde. Es besteht Bestattungspflicht. Die Mutter hat Anspruch auf Mutterschutz: 8 Wochen bzw. bei Mehrlingsgeburten oder einer Frühgeburt bis zu 16 Wochen.
Kommt ein Kind tot zur Welt und hat über 500g Körpergewicht, gilt es als Totgeburt. Es wird im Sterbebuch beurkundet und kann einen Vornamen bekommen. Sonst gibt es keine Dokumente. Auch dieses Kind muss bestattet werden. Die Mutter hat acht Wochen Mutterschutz.
Kommt das Kind tot zur Welt und wiegt weniger als 500g, gilt es als Fehlgeburt. Es gibt keinerlei Dokumente und das Kind kann offiziell auch keinen Namen bekommen. Die Mutter hat keinen Anspruch auf Mutterschutz, sie muss sich krankschreiben lassen, um nicht sofort wieder zur Arbeit gehen zu müssen.
Für den Betroffenen-Verein Pusteblume ist diese 500g-Grenze willkürlich. Fehlgeborene Kinder werden nicht ins Personenstandregister eingetragen, was bedeute, „dass diese Kinder nicht als Menschen anerkannt werden“. Im Mai 2014 hat der Verein Nationalratspräsidentin Barbara Prammer eine Petition zur „Abschaffung der 500-Gramm-Grenze bei Fehlgeburten und freiwillige Eintragung aller Kinder ins Personenstandsregister“ überreicht. In Deutschland wurde das Personenstandsgesetz im Mai 2013 diesbezüglich geändert. Dort können Eltern ihre fehlgeborenen Kinder auf Wunsch beurkunden lassen.
In vielen Städten Europas gibt es Angebote für Eltern, die sich nicht in der Lage sehen, ein Begräbnis für ihr totes Baby zu organisieren. Seit 2000 bietet die Stadt Wien an, für totgeborene oder unmittelbar nach der Geburt verstorbene Kinder die Bestattung zu veranlassen. Dafür wurde am Wiener Zentralfriedhof ein eigener Babyfriedhof in der Gruppe 35B eingerichtet. Die Stadt kümmert sich um das Begräbnis, legt einen Termin fest und übernimmt alle Kosten. Die Eltern werden über den Termin informiert, können dabei sein – müssen aber nicht. Die Grabstätte ist für zehn Jahre bezahlt, danach wird sie aufgelassen, eine Verlängerung ist nicht möglich. Fehlgeborene Kinder können vier Mal im Jahr feuerbestattet werden und werden in einer Sammelgrabstätte beigesetzt. Die Angebote in den Ländern sind hier recht unterschiedlich. Auch an diesem Punkt ist professionelle Unterstützung notwendig, damit Eltern eine gute Entscheidung treffen können.
Rede über dein Kind
Mit dem Schock der Diagnose und der Geburt hat der Trauerprozess gerade erst begonnen. Die Eltern kommen nachhause, allein. Sie begegnen der Nachbarin, die sich nach dem „Butzi“ erkundigt. Mein Kind ist tot. Entsetzen. Sprachlosigkeit. Zuhause wartet das fertige Kinderzimmer. Wird es ein Ort der Erinnerung sein oder kann ich es nie mehr betreten? Der Körper der Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat, ist darauf eingestellt, das Baby zu versorgen. Die Medikamente zum Abstillen wirken nur bedingt, die Milch tropft. „Ihr Körper ist mit Hormonen überschwemmt, mit Muttergefühlen, die nirgends hinkönnen“, drückt es eine Psychologin aus. Doch das sei auch gut so, denn dieses Chaos ermöglicht das ungehemmte Weinen, immer wieder. „Tränen heilen das Loch im Herzen.“
Es gibt noch einiges zu regeln: Ich muss mein Kind beerdigen. Der Gedanke an den kleinen Sarg nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich muss alle Freund*innen informieren, die sich mit mir aufs Baby gefreut haben. Was hab ich alles auf Facebook geteilt?
Es gibt Hilfestellungen, die das Trauern und den Umgang mit der Katastrophe erleichtern: von Mitteln zur Traumabewältigung aus der Homöopathie und Aromatherapie bis hin zu Büchern und psychologischer Hilfe. Die Selbsthilfegruppe Regenbogen bietet Gruppentreffen in fast allen Bundesländern in Österreich an, vergleichbare Angebote gibt es auch in Deutschland. Die Website bietet Erstinformation für Betroffene, für Angehörige und auch eine Liste an Therapeut*innen mit unterschiedlichen Angeboten: von der Trauerbegleiterin, die auch Hausbesuche macht, bis zur Praxis der Lebensberaterin.
Nach dem Weinen kommt das Reden. Traumatherapie bedeutet immer auch: Worte für das Unfassbare finden. Rede über dein Kind. Psychologinnen erzählen von Sternenmüttern, die dreißig Jahre nach ihrer Totgeburt noch immer kein Wort über ihr Kind über die Lippen bekommen, ohne ein ersticktes Schluchzen. Sie haben es nie getan, der „Vorfall“ wurde verdrängt. Das tote Kind auch noch totgeschwiegen.
Nanaya, das Zentrum für Schwangerschaft und Geburt in Wien, hat sich auch der Zielgruppe Sternenmamas angenommen und bietet u.a. einen Kurs zur Rückbildungsgymnastik „für Frauen, deren Baby gestorben ist“ an. Ein unglaublich wichtiges Angebot, denn keine dieser Mütter würde es aushalten, mit anderen Müttern und ihren Babys im Kurs zu sein. Und doch haben auch ihre Körper eine anstrengende Schwangerschaft hinter sich. Dieser Rückbildungskurs ist anders. Die Frauen weinen miteinander, bevor sie miteinander turnen. So entsteht ganz schnell eine Verbundenheit, ein Verständnis, das anderen in dieser Situation fehlt. Diese Sternenmamas können sich treffen, um über ihre Trauer zu reden, sie lachen miteinander, sie weinen miteinander, die Fotos der toten Kinder machen die Runde. Wie soll euer Grabstein aussehen? Was soll ich der Kollegin erwidern, die mir ein „komm endlich drüber hinweg“ entgegenschleudert?
Trauer dauert
Ein Trauerjahr. Ein Leben lang. Sterneneltern haben viel zu kämpfen mit der Art und Weise, wie ihr Umfeld auf die Trauer reagiert. „Das ist vorbei, du musst das abhaken. Wer weiß, wofür es gut war. Du kannst ja noch viele Kinder bekommen.“ Tröstlich gemeinte Sätze wie diese treffen trauernde Eltern in tiefster Seele. Wofür soll es gut sein, dass mein Kind gestorben ist? Auch wenn ich noch fünf Kinder bekomme, das ändert nichts daran, dass dieses Kind tot in meinen Armen lag! Eltern, die ihr Baby sterben sahen, wollen laut schreien, sich auf den Boden werfen, die Welt verfluchen, immer wieder in Schluchzen ausbrechen. Nichts davon ist vorgesehen. Sie trauern still und heimlich in ihren eigenen vier Wänden. Die Trauer muss genauso unsichtbar sein, wie es das Baby war. Und wenn sie das nächste Mal in geselliger Runde mit FreundInnen oder Verwandten sitzen, werden sie traurig. MEIN KIND IST TOT, wollen sie rausschreien, damit der Schmerz hörbar wird. Totschweigen ist wie noch mal sterben.
Fußnote:
(1) Für Deutschland sind Statistiken aus 2012 verfügbar: Insgesamt gab es 2.791 tote Babys, davon kamen 2.400 tot zur Welt, weitere 391 starben im Säuglingsalter. Lebendgeburten: 673.000
Buchtipp:
Hanna Lothrop: Gute Hoffnung – jähes Ende. Begleitung und neue Hoffnung für Eltern, Kösel 2005
Dieser Text erschien zuerst in an.schläge September 2014.