Süchtig nach Leben in einem Paralleluniversum“

Judith Schoßböck hat ME/CFS, das Liquorverlustsyndrom und weitere schwere Krankheiten. Mit ihrer Kunst klärt sie auf. Protokoll: Bettina Enzenhofer

Kunstwerk von Judith Schoßböck. Gemaltes Porträtbild einer Person in grün. Der Schädel ist oben offen, rote Schlangen mit spitzen Zähnen kriechen heraus. Eine Schlange ist mit einer Nadel durchgestochen, der Hals der Person auch. Die Augen sind Spiegeleier.
Selbstporträt mit Punktion, Acryl Gouache auf Papier, 2022 © Judith Schoßböck

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein persönlicher Text. Judith Schoßböck erzählt von ihrer schweren Behinderung. Sie kann ihr Bett nicht mehr verlassen. Ihre Eltern und ihr Freund pflegen sie. Judith hat starke Schmerzen. Sie sagt: Das ist ein Folter-Grusel-Kabinett. Aber sie erlebt auch viele schöne Momente. Zum Beispiel macht sie Online-Aktivismus. Das gibt ihr Lebenssinn. Und sie hat mit Kunst begonnen. Mit ihrem Freund hat sie das Black Ferk Studio gegründet. Gemeinsam machen sie Kunst und klären gleichzeitig über Krankheiten auf.
Judith hat viele Krankheiten, zum Beispiel das sogenannte Liquor-Verlust-Syndrom. Diese Krankheit ist sehr selten. Sie kann nach einer sogenannten Lumbal-Punktion auftreten. Bei einer Lumbal-Punktion wird mit einer Nadel Nervenwasser entnommen. Manchmal ist diese Nadel zu dick. Oder die Ärzt*innen stechen zu oft. Dann kann ein Leck entstehen. Bei Frauen, jungen und sehr dünnen Menschen passiert das häufiger als bei anderen. Judith klärt auf: Ärzt*innen sollen zum Beispiel dünne Nadeln nehmen. Wenn es ein Leck gibt, soll man es rasch behandeln lassen. Und Ärzt*innen sollen den Betroffenen glauben.

Diese Kurzfassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

Dieses Protokoll ist über mehrere Wochen hinweg auf der Basis von kurzen Sprachnachrichten und SMS entstanden.

„Ich war am besten Weg zur Post-Doc-Karrierefrau und bin nun ein 24/7-Pflegefall, das ist meine Story. Ich bin bettlägerig, extrem reiz- und gehörsensibel und gehe nicht weiter als bis zur Toilette. Complete system fuck up. Doch obwohl mir die Krankheit den Boden unter den Füßen weggezogen hat und ich meine Träume verloren habe, ist mir wichtig zu sagen, dass ich auch viel Gutes und Schönes erlebe. Es gibt auch immer wieder Momente, in denen sich mein Gehirn konzentrieren kann, z.B. jetzt, wo ich dir diese Sprachnachricht schicke. 

1:50.000

Eine Reihe von Triggern hat zu meiner schweren Behinderung geführt – und zwar immer dann, wenn gerade alles wie am Schnürchen gelaufen ist und ich mich wieder hochgerappelt hatte: eine Schilddrüsen-Entfernung, die ich überraschend schlecht vertragen habe, oder ein Virus, mit dem meine schwere Pankreas-Insuffizienz begann. Dann ist ME/CFS ausgebrochen. Als es mir etwas besser ging, habe ich wieder im Home Office gearbeitet. Und dann kam die Covid-Impfung, auf die ich mich gefreut hatte. Ich gehöre leider zu einer kleinen Minderheit, deren Zustand sich danach extrem verschlechtert hat. Man kennt das bei ME/CFS.

Ich war zwei Wochen im Krankenhaus, wo man eine Lumbalpunktion durchgeführt hat – dabei wird mit einer Nadel Hirn- oder Rückenmarksflüssigkeit, also Liquor im Bereich der Lendenwirbel entnommen. Da hatte ich wieder großes Pech. Ich gehöre zu einer der wenigen Gruppen, die damit extreme Probleme hat. Mein ME hat sich sehr verschlechtert und ich hatte einen Verlust von Gehirnwasser, weil das Loch der Lumbalpunktion nicht zugewachsen ist – das passiert sehr selten, die Prävalenz ist 1:50.000, die Inzidenz 5:100.000. Dann bin ich nochmal relativ schnell abgestürzt und meine Bettlägerigkeit wurde noch extremer.

Zu wenig Aufklärung

Es ist ein recht unbekanntes Phänomen, dass nach einer Lumbalpunktion ein chronischer Liquorverlust auftreten kann. Man unterschreibt im Aufklärungsbogen zwar ziemlich viele Komplikationen, wenn es dann aber passiert, wird es nur selten von den Neurolog*innen erkannt – nur 5 bis 10 Prozent der Leaks, die durch ärztliche Einwirkung hervorgerufen werden, sind im bildgebenden Verfahren sichtbar. Auch die Risikogruppen kommen im Aufklärungsgespräch zu wenig vor: Es betrifft laut einer Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie häufiger junge Menschen im Alter von 18 bis 30 und sehr dünne Personen, Frauen doppelt so oft als Männer, sowie Personen, die oft Kopfschmerzen haben – ich würde sagen, es betrifft also vor allem bestimmte vulnerable Personen. Aber es kann jede*n treffen. 

Ein weiterer Faktor ist die Verwendung von traumatischen Nadeln: Wenn sie zu groß sind und/oder man zum Beispiel mehrmals sticht, ist das Risiko für Liquorverlust erhöht. Und es wäre auch möglich, die Punktion im Liegen und mit Durchleuchtung zu machen statt vornübergebeugt. Es ist frustrierend, wenn von medizinischer Seite die Punktion als lapidarer Vorgang gesehen wird. Denn der Prozess kann dich komplett bettlägerig oder sogar eine Operation notwendig machen – das sollten alle wissen. Ein Tipp: Besteht auf die Verwendung von atraumatischen Nadeln, Durchleuchtung und einer erfahrenen Person bei der Durchführung!

Psychologisierung

Die sogenannte Leaker- oder LUS- (Liquorunterdruck-Symptom) Community berichtet auch immer von einer extremen Psychologisierung. Man kennt das ja auch von anderen Krankheiten: Wenn etwas in der Bildgebung nicht sichtbar ist, wird dir nicht geglaubt. Aber die Liquorverlust-Symptome gehen weit über Kopfschmerzen hinaus, es sind lebensverändernde Symptome! Es ist meist ein großer Kampf der Betroffenen, überhaupt zu einer Behandlung zu kommen, das heißt einen sogenannten Blutpatch oder eine Operation zu bekommen. Wichtig ist: Falls es zu Komplikationen kommt, sollte man sich früh um eine Behandlung bemühen, weil diese dann noch einfacher möglich ist und die Langzeitfolgen auch geringer – das ist das, was man aus der Community so lernt.

Folter-Grusel-Kabinett

Heute lebe ich ein Leben im Paralleluniversum, eine komplette Veränderung von allem, das ich vorher kannte. Von einer Person, die immer Unabhängigkeit gelebt hat, wurde ich zu einer, die ohne die Hilfe von anderen nicht überlebensfähig wäre. Und gleichzeitig bedeutet es auch sehr viele Schmerzen. Ich verwende hier sehr starke Worte, denn die Kombination meiner Krankheiten ist wirklich ein tägliches Folter-Grusel-Kabinett. Die Abhängigkeit und Behinderung sind für mich aber gar nicht das Problem, sondern dieses Foltergefängnis: die starke Neuroinflammation, eine chronische Nervenentzündung, die ich im ganzen Körper und Kopf spüre. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber noch ein Jahr gesund in Freiheit leben.

Die Veränderung betrifft viele

Ich bin sehr schwer behindert und meine Krankheit definiert mich – wobei meine Behinderung dynamisch ist, jeder Tag ist anders und dadurch ist alles schwer planbar. Aber ich habe auch versucht, meine Krankheit positiv zu reframen: Ich nehme aus dieser Krankheit viel mit und ziehe sehr viel Lebenssinn aus dem Rest von Online-Aktivismus, den ich noch machen kann. Es gibt auch in diesem Mini-Modus von Leben sehr schöne Momente. Und ich bin stolz, Teil von wunderbaren Communitys zu sein, wie die Disability-Community oder die ME-Community. Ich habe das Glück und Privileg, dass mich meine Eltern und Lieben sehr unterstützen, ich habe einen wunderbaren Partner. Man sagt manchmal, Krankheit ist ein großer Lehrer. Das stimmt natürlich. Aber man lernt nicht das, was man lernen möchte. Wenn man irgendetwas Gutes herausquetschen möchte aus dieser ganzen Sache, dann ist das diese Intimität, die auch über das Unglück entsteht. Und man lernt Aspekte und Teile der Gesellschaft kennen, die man sonst niemals kennengelernt hätte. Aber ansonsten bedeutet es für mich, dass es keine Entspannung gibt, das ist eigentlich ein Dauer-Marathon. Die Veränderung betrifft natürlich nicht nur mich, sondern auch meine Lieben, meine ganze Familie. Ich sage immer: Diese Krankheit ist für die Gesellschaft unsichtbar, aber sie ist sehr sichtbar für alle Lieben um dich herum. 

Mit Kunst Tabus ansprechen

Als ich gar nicht sprechen konnte und einen sehr langen Crash hatte, habe ich als eine Art Therapie mit dem Zeichnen und der Kunst begonnen, und das ist auch viel Schmerzmanagement. Mit meinem Partner habe ich das Black Ferk Studio gegründet: Wir machen Kunst, Installationen, Performances, Ausstellungen und wollen auf unkonventionelle Weise Dinge sichtbar machen, die nicht ausgesprochen werden sollen. Wir wollen das Schweigen im Wald brechen und auch Awareness über die eigene Bubble hinaus schaffen. Unser Fokus ist auf schweren komplexen Krankheiten, ME/CFS im Moment, aber auch andere Themen, die Kranke generell betreffen, werden behandelt. Wir wollen die Schatten- und Sonnenseiten dieser Situation beleuchten, aber auch Tabus ansprechen und gesellschaftliche Missstände bearbeiten. Dabei soll auch eine gute Portion schwarzen Humors nicht zu kurz kommen. Wir wollen auch ein Ort der Begegnung sein für Leute, denen die bisherige Bearbeitung von Krankheit nicht ausreicht. Das müssen nicht Leute sein, die ME/CFS haben, sondern das können alle sein, die gerne ein Ally werden wollen für Leute mit Behinderung oder für neurodivergente Menschen. Neuroimmunologische Krankheiten können ja alle treffen, also wollen wir auch für alle offen sein. Es gibt sehr viel aus dem Bereich toxische Positivität und problematischere Angebote – aus Krankheit wird auch viel Profit geschlagen. Hier stellen wir uns mit einer Philosophie entgegen, die den Leistungsdruck und die Art und Weise, wie mit Kranken in unserer Gesellschaft umgegangen wird, dezidiert infrage stellt.

Heute habe ich recht gut runterquasseln können, weil ich heute einen relativ guten Tag habe, also einen, an dem ich länger sprechen konnte. Du kannst mir zurückquasseln und ich teile es mir ein mit dem Abhören. Nachrichten mit maximal zwei Minuten sind optimal. Zuhören ist für mich schwerer als rausquasseln, so ist das. Ein Scheiß ist das. Ich mache jetzt mal Schluss und raste mich aus. Ich habe dann so Tage, da kann ich was tun, und dann tu ich viel zu viel – wie jede*r. Das ist auch etwas, das diese Krankheit macht: Süchtig nach Leben in einem Paralleluniversum zu sein.“

Judith Schoßböck ist eine der Millionen Vermissten (#millionsmissing) und Neo-Künstlerin; seit ihrer schweren Behinderung zeichnet sie in ihrem Bett. Zuvor war sie zehn Jahre lang wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems, HKPFS-Stipendiatin an der City University of Hong Kong (Forschungsschwerpunkt soziale Medien, elektronische Demokratie und Gesundheitsaktivismus), Managing Editor des Open Access-Journals jedem.org, sowie wissenschaftliche Ko-Direktorin beim Symposium Paraflows. In ihrer Freizeit ko-organisierte sie gerne Events aus dem Bereich Festivals und Kunst.

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein persönlicher Text. Judith Schoßböck erzählt von ihrer schweren Behinderung. Sie kann ihr Bett nicht mehr verlassen. Ihre Eltern und ihr Freund pflegen sie. Judith hat starke Schmerzen. Sie sagt: Das ist ein Folter-Grusel-Kabinett. Aber sie erlebt auch viele schöne Momente. Zum Beispiel macht sie Online-Aktivismus. Das gibt ihr Lebenssinn. Und sie hat mit Kunst begonnen. Mit ihrem Freund hat sie das Black Ferk Studio gegründet. Gemeinsam machen sie Kunst und klären gleichzeitig über Krankheiten auf.
Judith hat viele Krankheiten, zum Beispiel das sogenannte Liquor-Verlust-Syndrom. Diese Krankheit ist sehr selten. Sie kann nach einer sogenannten Lumbal-Punktion auftreten. Bei einer Lumbal-Punktion wird mit einer Nadel Nervenwasser entnommen. Manchmal ist diese Nadel zu dick. Oder die Ärzt*innen stechen zu oft. Dann kann ein Leck entstehen. Bei Frauen, jungen und sehr dünnen Menschen passiert das häufiger als bei anderen. Judith klärt auf: Ärzt*innen sollen zum Beispiel dünne Nadeln nehmen. Wenn es ein Leck gibt, soll man es rasch behandeln lassen. Und Ärzt*innen sollen den Betroffenen glauben.

Diese Kurzfassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

Teilen:
Skip to content