Willkommen, Ergüsse!

Wer eine Vulva hat, hat wahrscheinlich auch eine Prostata und kann ejakulieren. In „Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation“ beschreibt Stephanie Haerdle, warum dieses Wissen im 19. Jahrhundert verloren ging. Bettina Enzenhofer hat mit der Autorin über lustvolle Flüssigkeiten und patriarchale Mythen gesprochen.

Portraitfoto von Stephanie Haerdle in blauem Pulli vor einer Betonwand
Stephanie Haerdle, © Barbara Dietl

Bettina Enzenhofer: In Ihrem Buch reisen Sie Jahrhunderte zurück und beschreiben die Geschichte der Ejakulation und Prostata von Menschen mit Vulva. Was weiß man heute?

Stephanie Haerdle: Die Prostata ist ein Gewebe rund um die Harnröhre und kann unterschiedliche Formen haben. Die meisten Frauen haben eine Prostata. Sie besteht aus Drüsengewebe, -gängen und -zellen. Manche Frauen haben ein weniger stark ausgeprägtes Drüsengewebe, manche ein stärker ausgeprägtes. Das könnte ein Grund dafür sein, dass manche Frauen viel und leicht ejakulieren, manche Frauen weniger und selten. Aber das ist spekulativ, da weiß man wenig. Bei der Ejakulation unterscheiden jüngste Forschungen zwischen zwei Flüssigkeiten: einer weißlichen, cremigen, dicken Flüssigkeit, die typische Prostata-Marker enthält und aus der Prostata kommt. Das können ein paar Tropfen oder ein Teelöffel voll sein. Die zweite Flüssigkeit, die Squirting-Flüssigkeit, kommt wahrscheinlich aus der Blase. Sie enthält Spuren von Kreatinin, Harnstoff und Harnsäure, ist aber kein Urin. Das Squirten wurde bisher fast gar nicht beforscht.

Im Buch heißt es über die Prostata: „Ihre Geschichte ist, so wie die der Klitoris und die der Ejakulation, eine von Entdeckung, Beschreibung und Vergessen, Wieder-Entdeckung, Wieder-Beschreibung und Wieder-Vergessen.“ Was haben Sie herausgefunden?

Es gibt unendlich viele Darstellungen weiblichen Spritzens. Es gibt sie in alten chinesischen Texten, in der griechischen und römischen Antike. Das Mittelalter – das arabische wie das europäische – ist voller Beschreibungen. Es gibt eine ganz ausführliche Schilderung der Ejakulation im 17. Jahrhundert von einem holländischen Anatomen, Reinier de Graaf. Auch die Pros­tata wurde schon in der griechisch-römischen Antike beschrieben. Der älteste Text, der genussvolles weibliches Spritzen im Zusammenhang mit dem Orgasmus beschreibt, ist über 2000 Jahre alt. Im Vergleich dazu ist die Zeitspanne, in der man behauptete, das Spritzen gebe es nicht, sehr kurz: Erst im späten 19. Jahrhundert erklärte man das Spritzen zur exklusiv männlichen Fähigkeit. Wenn überhaupt, dann spritzten jetzt nur noch fragwürdige oder „zu“ lustvolle Frauen. Ab den 1970er-­Jahren wurden die weiblichen Ergüsse dann wieder­entdeckt.

Wie lässt sich dieser Bruch im 19. Jahrhundert erklären?

Dafür waren viele Faktoren entscheidend. Vor dem 18./19. Jahrhundert gab es die Vorstellung, dass nur ein Körper mit einem weiblichen und männlichen Extrem und verschiedenen Übergangsformen existieren. Die Frau galt als weniger gelungene, weniger heiße, schwache Variante des Mannes, der als der ideale Mensch betrachtet wurde. Die Flüssigkeit, die die Frau beim Sex verspritzte, wurde analog zum männlichen Samen gedacht. Sie wurde bei Männern und Frauen mit Fortpflanzung verknüpft. Ab dem 18. Jahrhundert entstand die Idee, dass die Frau das ganz Andere sei, das sich in allem vom Mann unterscheide. Das Spritzen hatte in diesem Modell keinen Platz mehr. Dazu kam um 1900 die Entdeckung, dass es für die Fortpflanzung keine weibliche Lust braucht, sondern nur die Eizelle. Wozu aber eine Flüssigkeit ohne ­Fortpflanzungsfunktion? Auch das Wissen um die Prostata ging um diese Zeit verloren. Das alles kam zusammen und führte dazu, dass die Ejakulation irgendwann nicht mehr verstanden und wahrgenommen werden konnte. Spritzende Frauen wurden pathologisiert. Einige Jahrzehnte war die vorherrschende Erklärung eine Inkontinenz, eine Beckenbodenschwäche der Frau.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch das Problem von Übersetzungen historischer Quellen an. Wenn Übersetzerinnen die Ejakulation nicht kennen, haben sie auch kein Wort dafür und sprechen zum Beispiel von Lubrikation.

Ja, oder sie übersetzen die Flüssigkeit als krankhaften Ausfluss, schlimmstenfalls als Symptom einer Geschlechtskrankheit. Eigentlich müsste man mit dem Wissen um die weibliche Ejakulation noch mal unendlich viele Texte neu übersetzen. Das wird alles viel feuchter, wenn man das weiß!

In den historischen Texten geht es fast ausschließlich um Frauen, die mit Männern Sex haben. Lesben kommen kaum vor.

Ich bin ja recherchierend durchs Patriarchat gereist – in diesen Jahrhunderten haben vor allem Männer geforscht und geschrieben. Immer, wenn ich Hinweise auf lesbischen Sex und Ejakulation gefunden habe, habe ich mich gefreut und sie aufgegriffen. Es gibt z. B. einen chinesischen Roman aus dem 17. Jahrhundert, in dem zwei Frauen miteinander schlafen und die eine sich darüber wundert, dass die andere so nass wird. Die Kölner Ärztin Sabine zur Nieden hat in den 1990er-Jahren ihre Doktorarbeit zur weiblichen Ejakulation geschrieben: Sie hat über dreihundert Frauen befragt, auch zu ihrer sexuellen Orientierung, und herausgefunden, dass signifikant mehr lesbische Frauen schon einmal einen Erguss erlebt hatten.

Auch wenn ich Texte entdeckt habe, die den „weiblichen Samen“ in ein Konzept von Mehrgeschlechtlichkeit eingebunden haben, habe ich diese in mein Buch aufgenommen. Ich bin auch überzeugt, dass es eine riesige Kulturgeschichte an nicht-­binären Bildern, Vorstellungen und Mythen gibt.

Warum heißt es im Titel Ihres Buches „weibliche Ejakulation“, wo es doch eigentlich um die Ejakulation von Menschen mit Vulva geht?

Der Begriff weibliche Ejakulation ist nicht ganz treffend, weil er Menschen mit Vulva nicht miteinschließt, die sich nicht als weiblich oder als Frau definieren. In meinem Buch reise ich aber in Zeiten zurück, in denen immer von Frauen und Männern ausgegangen wurde. Ich untersuche, wa­rum der Frau irgendwann das Spritzen abgesprochen wurde. Ich benutze den Begriff „weibliche Ejakulation“, weil er für mich auch ein politischer Kampfbegriff ist. Denn wenn ich „weibliche Ejakulation“ sage, denkt mein Gegenüber automatisch die männliche Ejakulation mit. Sofort sind wir in einem Spannungsfeld: Das eine kenne ich natürlich, aber das andere gibt’s auch? Warum weiß ich das nicht? Das finde ich wichtig. Aber ich verstehe, dass es für manche Menschen problematisch ist, weil sie damit nicht angesprochen sind.

Könnten sich mit dem Wissen über Ejakulation bzw. Squirten manche unter Druck fühlen – jetzt muss ich auch noch squirten!

Die Spannbreite von Menschen mit Vulva, die schon mal ejakuliert haben, ist riesig: zehn bis 69 Prozent. Wichtig zu wissen ist, dass auch ganz kleine Mengen Flüssigkeit ejakuliert werden können. Ich kann mir vorstellen, dass das beim penetrativen, heterosexuellen Geschlechtsverkehr oft gar nicht wahrgenommen wird. Ich plädiere unbedingt für einen entspannteren Umgang mit unserem Körper. Das war auch etwas, das ich in diesen alten chinesischen Texten gelernt und worüber ich sehr gestaunt habe. Ich dachte: Wir sind sexuelle Analphabetinnen! So schlicht gestrickt, wie wir Sexualität und Erotik heute miteinander leben, das ist total trostlos! Wir sollten viel neugieriger, experimenteller, gelassener und weniger orgasmuszentriert sein. Wir sollten anfangen, Sex anders zu denken. Ich will auf keinen Fall sagen: Jetzt müsst ihr alle ejakulieren oder squirten! Im Tantra ist die Ejakulation etwa sehr eng mit einer „tieferen“, oft auch eher passiv-empfangenden Weiblichkeit verknüpft worden. Nur die Frauen, die ejakulieren bzw. squirten würden, seien wirklich bei sich angekommen, hätten ihre Traumata aufgearbeitet und was weiß ich. Das sehe ich sehr kritisch. Spritzen ist einfach nur eine mögliche Form, wie ein Körper Lust zeigen kann, und eine Flüssigkeit mehr, die wir willkommen heißen sollten.

Stephanie Haerdle ist eine Berliner Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. „Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation“ ist 2020 bei Edition Nautilus erschienen.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge I/2021.

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