Keine Pause, keine Löffel
Menschen mit chronischen Schmerzen sind mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Ravna Marin Siever über die kraftraubende Suche nach Therapieformen
Ich habe chronische Schmerzen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Wenn ich sage, dass mir etwas weh tut, dann meine ich nicht, dass ich sonst keine Schmerzen habe. Ich meine, dass es so viel schlimmer ist als mein Grundschmerz, dass ich gerade dringend Ruhe brauche, liegen, durch Social Media scrollen. Keine erholsame entspannende Pause, sondern eine Maßnahme zur Schmerzlinderung: Ablenkung und Ruhe. Richtig schlimm wurden die Schmerzen nach der Geburt meines dritten Kindes. Starke Bewegungseinschränkungen stellten sich ein, es ging mir psychisch schlechter.
Was macht es mit einem Menschen, immerzu Schmerzen zu haben? Es zermürbt. Es zehrt. Es schränkt ein. Neben dem eigentlichen Schmerz ist da die Masse an Vorurteilen. Von medizinischem Personal, von Bekannten, von Nahmenschen. Chronische Schmerzen? Chronische Faulheit und Medikamentenabhängigkeit! Alles Übertreibung. Und wenn die Schmerzen so schlimm sind, warum machst du dann diese eine Sache trotzdem? Stell dich nicht so an! Jedes hat mal Schmerzen. So schlimm kann es doch nun wirklich nicht sein!
„Doctor Shopping“
Eine der üblichen Einteilungen von chronischen Schmerzen ist die nach Gerbershagen, eine andere die nach dem Mainzer Stadiensystem der Schmerz-Chronifizierung. Vor allem das erste liest sich wie eine Ansammlung von Dingen, die kein Mensch sein will: all die Vorurteile, geballt als Bewertungsskala für Menschen mit chronischen Schmerzen. Von „Versagen in Familie, Beruf und Gesellschaft“ ist da etwa im Stadium III auf der psychosozialen Ebene die Rede. Generell liest es sich wie: Du bist für deinen Schmerz verantwortlich, und wenn du ihn nicht gut genug in Griff kriegst, bist du selbst schuld. Aber wenn Schmerzen chronisch werden, kommt niemand, nimmt dich an die Hand und erklärt dir, wie Schmerzmanagement funktioniert.
Im Gegenteil: Oft muss lange nach Ärzt_innen gesucht werden, die sinnvoll Unterstützung und Hilfe anbieten. Bei Gerbershagen findet sich das unter „Beanspruchung der Einrichtungen des Gesundheitswesens“ – dort findet sich auch die Bezeichnung „doctor shopping“. Wer mehrfach nach ein-zwei Besuchen eine neue Praxis aufsucht, wird mit dem Vorwurf konfrontiert, sich Medikamente zu beschaffen (Sucht-Vorurteil) oder medizinische Aufmerksamkeit zu suchen.
Schmerzen zu managen kostet Kraft
Als ich zu meiner Hausärztin ging und über das Ausmaß meiner Schmerzen sprechen wollte, riet sie mir in eine gute Matratze investieren und drückte mir ein Prospekt in die Hand. Als ich zum Orthopäden ging, fragte er, wo der Schmerz am stärksten sei, röntgte dann die Hüfte, diagnostizierte eine Schleimbeutelentzündung und schickte mich mit Ibuprofen nach Hause. So oder so ähnlich sahen viele Besuche bei Ärzt_innen aus. Schmerzmanagement muss erlernt werden, es sich selbst zu erarbeiten ist schwierig. Zwar gibt es durchaus Anlaufstellen zur Unterstützung, doch dafür braucht es etwas, das Menschen mit chronischen Schmerzen oft nicht haben: Energie.
Permanente Schmerzen bringen dich dazu, Dinge zu vermeiden, die noch mehr weh tun. Jeder Schritt wird zweimal überlegt, jedes Bücken, jede Stufe. Ich habe oft mit einer Freundin, die chronische Depressionen hat, über Ähnlichkeiten zwischen den beiden Erkrankungen gesprochen. Die Tipps sind oft die Gleichen („Sie müssen sich nur mal mehr bewegen!“), die Schuldgefühle und die Scham ähneln sich („Ich schaffe nichts, warum kann ich mich nicht einfach zusammenreißen?“), die Trauer und der Umgang mit guten Phasen ebenso („Oh, heute geht’s mir halbwegs okay, ich muss jetzt sofort alles machen, was ich vorher nicht tun konnte“ – um sich dann völlig zu übernehmen).
Das letzte Mal, dass ich keine Schmerzen hatte, ist inzwischen etwa 15 Jahre her. Ich hatte das Medikamenten zu verdanken. Mein rechtes Hüftgelenk war vollständig luxiert, aus dem Nichts heraus: Ich stand kochend am Herd, es gab ein komisches Geräusch und ich fiel hin, mit starken Schmerzen. Der Notarzt gab mir ein eine Spritze, bevor er mir das Gelenk einrenkte. Als die Wirkung einsetzte, hatte ich keine Schmerzen mehr. Nirgends. Ich erinnere mich so gut daran, weil ich diesen Zustand nicht kenne und auch damals schon nicht kannte. Irgendwo hat immer irgendetwas weh getan, meist die Gelenke. Ich erinnere mich nicht an ein „ohne Schmerzen“, das ohne Medikamente einhergeht.
Mit den Löffeln haushalten
Inzwischen ist die Löffel-Theorie vielen Menschen ein Begriff und sie funktioniert auch gut für Menschen mit chronischen Schmerzen. Kurz gesagt geht es darum, dass chronische Erkrankungen dazu führen, dass Menschen nur eine begrenzte Menge von Dingen an einem Tag tun können, weil ihre Energie begrenzt ist. Die meisten Menschen wachen morgens auf und haben genug Energie für ihren Alltag, ihre Löffelschublade ist voll und füllt sich über Nacht. Chronisch kranke Menschen wachen mit wenigen Löffeln auf und müssen sich überlegen, wo sie ihre Löffel einsetzen – und wie sie sie wieder auffüllen. Wie viele Löffel ein Mensch mit chronischen Schmerzen für einen Tag hat, hängt auch von der Art des Schmerzes ab: Manche haben jeden Tag gleich schlimme Schmerzen, manche haben bessere und schlechtere Tage, manchen werden plötzlich Löffel geraubt, wenn ein heftiges Schmerzereignis passiert. Wer Schmerzen hat, wird von medizinischem Personal oft gebeten, den Schmerz auf einer Skala von null bis zehn einzuordnen, wobei null kein Schmerz ist und zehn der schlimmste vorstellbare Schmerz. Auch bei chronischen Schmerzen lässt sich eine solche Skala nutzen, sie unterscheiden sich jedoch von den akuten. Denn während akuter Schmerz meist einen sehr konkreten Auslöser hat, sind die Ursachen chronischer Schmerzen vielfältig. Von Arthrose über Fibromyalgie bis hin zu rheumatischen Erkrankungen gibt es vieles, was zu chronischen Schmerzen führen kann. Oft verstärken sich die Schmerzen durch psychische Faktoren, was wiederum die Psyche negativ beeinflusst. Der soziale Aspekt tut ein Übriges und beeinflusst die Schmerzen.
Schmerzskala und Löffel-Theorie lassen sich nutzen, um den Umgang mit chronischen Schmerzen zu verbessern. Ich zum Beispiel brauchte sehr lange, um nicht mehr zu versuchen in den wenigen guten Momenten alles auszugleichen, was ich in den vielen schlechten Momenten nicht „geschafft“ hatte. Um zu akzeptieren, dass weniger Leistungsfähigkeit mein neues Normal war. Dass eine Stunde Demo plus Hin- und Rückweg einen Tag Pause und Schonung kostet. Doch auch Dinge, die Löffel kosten, können trotzdem guttun. Aber wenn mein Schmerzlevel schon hoch ist, muss ich gucken, nicht zu viele Löffel auszugeben, denn das wiederum hat einen negativen Einfluss auf die folgenden Tage und Schmerzen. Klar ist: je stressiger mein Leben, je schlechter es mir psychisch geht, desto stärker meine Schmerzen. Zum Schmerz-Management (das übrigens Löffel kostet!), hilft es, ein Schmerztagebuch zu führen (ich nutze die App Manage My Pain), zu gucken, welche Faktoren guttun, welche Schmerzen oder Funktionsfähigkeit verschlechtern, mit welcher Art von Schmerz welcher Umgang gut tut. Medikamente, Reha-Maßnahmen und Mobilitätshilfen können die Schmerztherapie unterstützen.
Schritt für Schritt
Oft wird nach einer Ursache für den Schmerz gesucht, aber keine gefunden: Das heißt aber nicht, dass es diese nicht gibt. Das Vorurteil, dass chronische Schmerzen ausschließlich psychisch bedingt sind, geht einher mit der saneistischen Annahme, dass psychische Ursachen stärker selbstverschuldet wären als körperliche und einfach nur eine Sache der inneren Haltung, eine Entscheidung. Die meisten chronischen Schmerzen haben aber körperliche und psychische Ursachen, die sich oft gegenseitig verstärken.
Was mir am meisten half, war schließlich das, wovor ich mich ewig drückte, auch weil es schambesetzt ist: ein Rollator. Ich bin Mitte 30. Wenn Menschen mich mit Rollator sehen, dann ist da entweder Mitleid oder Abschätzung in ihren Blicken und Worten. Ich hatte große Angst davor, meine Schmerztherapeutin darum zu bitten. Drei Termine bei ihr verstrichen, ohne, dass ich nach einem Rollator fragte. Dann endlich schaffte ich es – und holte mir damit ein gutes Stück Mobilität zurück. Zusammen mit der Schmerzmedikation, auf die ich gut eingestellt bin, wird mein Leben Stück für Stück wieder ein bisschen weniger schmerzhaft.
Ravna Marin Siever lebt mit siener Familie am Berliner Stadtrand und schreibt und spricht on- und offline hauptsächlich zu den Themen geschlechtsoffene Erziehung und Geschlechtervielfalt. Im März 2022 erschien sien erstes Buch „Was wird es denn? Ein Kind! – Wie geschlechtsoffene Erziehung gelingt“ im Beltz Verlag.