Gynäkologie: Wie es gleichzeitig eine Über-, Unter- und Fehlversorgung geben kann
Seit Jahrzehnten fordern Feminist*innen eine respektvolle Behandlung in der Gynäkologie ein. Lea Dora Illmer begibt sich auf Spurensuche, spricht mit Expert*innen und fragt: Ist die gynäkologische Untersuchung, so wie wir sie kennen, überhaupt notwendig?
„Beim Frauenarzt“ steht über dem vergilbten Text. Darunter: „Was wir vom Frauenarzt erwarten und fordern können“. Ich stoße darauf, während ich die „Emanzipation“ durchblättere, eine feministische Zeitschrift, die es in Basel von 1975 bis 1996 gab. Sie galt ihren Macher*innen zufolge als „Kampfblatt der neuen Frauenbewegung“. Das Thema der besagten Ausgabe von 1981: „Sondernummer Gesundheit“. Ich lese mir die Forderungen durch und werde stutzig. Vergewissere mich des Erscheinungsjahres, halte inne, schüttle den Kopf. Werde erst wütend, dann resigniere ich. Kann es sein, dass Feminist*innen in den 80er-Jahren bereits das forderten, was wir noch heute vermissen? Ich lese: „Grobes Verhalten brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen“ und „Wir haben das Recht, respektvoll und fachlich korrekt behandelt zu werden“ und frage mich in Anlehnung an #FrauenBeimArzt: Müssen wir wirklich immer wieder von vorne beginnen? Die vierzig Jahre alten Forderungen sind erschütternd aktuell.
Der Text informiert auch darüber, was zu einer gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung gehört: „Tasten der Gebärmutter und der Eierstöcke, Scheidenabstrich zum Erkennen von evtl. Entzündungen, Pilzen …, Krebsabstrich von Muttermund und Gebärmutterhalskanal, Brustuntersuchung“. Es war den Feminist*innen wichtig, über möglichst viele Informationen zu verfügen. Sie waren überzeugt: Wissen ist Macht. Dazu gehörte auch das Wissen darüber, wie Behandlungen ablaufen und was uns erwartet. Wie aktuell ist ihre Auflistung? Was ist eine gynäkologische Untersuchung heute? Was sollte sie umfassen? Und: Ist sie überhaupt notwendig?
Reden, tasten, inspizieren
Die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) hat 2011 eine „Information für Patientinnen: Die Untersuchung beim Frauenarzt / bei der Frauenärztin“ veröffentlicht. Darin steht, dass Gynäkolog*innen „wegen Beschwerden, zur Beratung oder zur Vorsorgeuntersuchung“ aufgesucht werden. Die Konsultation beginne mit einem Gespräch, das „Fragen zu Vorerkrankungen, familiären Erkrankungen, dann auch Fragen zur Monatsblutung, zu durchgemachten Schwangerschaften oder gynäkologischen Erkrankungen“ sowie „Fragen zu Verhütung, zu sexuellen Problemen in der Partnerschaft oder zu häuslicher Gewalt“ umfasse. Die Untersuchung beinhalte eine Brustuntersuchung und eine Untersuchung auf einem gynäkologischen Stuhl: „Zuerst wird der Scheideneingang betrachtet, speziell wird auf Entzündungen oder Hautveränderungen geachtet“, darauf folge die „innere Untersuchung“. Der Gebärmutterhals müsse mit einem Hilfsmittel betrachtet werden, „man nimmt dazu ein sogenanntes Spekulum, einen Scheidenspiegel“. Dann erfolge die „Abnahme des Krebsabstriches von der Oberfläche, evt. auch die Untersuchung des Scheidensekretes“. Weiter gehöre das Abtasten der Gebärmutter und Eierstöcke „durch die Scheide“ dazu. Legten Beschwerden oder Untersuchungsergebnisse es nahe, folge zuletzt eine Ultraschalluntersuchung, die ebenfalls „durch die Scheide mit einem Ultraschallgerät in Form eines dünnen Stabes“ durchgeführt wird. Ich fasse zusammen: Untersucht respektive inspiziert werden also die Brust (inklusive Achselhöhlen und Lymphdrüsen), der Unterbauch (mit Abtasten), die Vulva und die Vagina (innerlich und äußerlich).
Gesund zur Ärzt*in?
Patient*innen gehen zu kaum einer Untersuchung häufiger – und das, obwohl sie im Regelfall gesund und beschwerdefrei sind. Dennoch interessieren sich Fachkreise und Forschung erschreckend wenig dafür. So existiert etwa keine verbindliche Anleitung zur Unterleibsuntersuchung, wie mir die SGGG auf Anfrage bestätigt. Auch über deren Sinn und Unsinn gäbe es in Fachkreisen kaum Diskussionen, betont die Professorin für Gesundheitswissenschaften Ingrid Mühlhauser im Gespräch. Es gelte das Prinzip Hoffnung. Mühlhauser ist Expertin für evidenzbasierte Medizin und hat sich aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive intensiv mit Früherkennungsuntersuchungen und Krebsvorsorge beschäftigt. Das Hauptanliegen der evidenzbasierten Medizin ist, dass Ärzt*innen und Patient*innen auf wissenschaftlicher Basis verstehen können, welche Vor- und Nachteile eine medizinische Behandlung mit sich bringt. Dieses Anliegen ist auch rechtlich abgedeckt: Durch das Patientenschutzgesetz. Eigentlich müssten Patient*innen umfassend über alle Untersuchungen aufgeklärt werden. Falls keine evidenzbasierten Studien zu einer Untersuchung vorliegen, sollte darauf hingewiesen werden. Patient*innen haben das Recht darauf, zu wissen, wenn der Nutzen einer Untersuchung nicht belegt ist. In der Realität geschieht das jedoch kaum.
Es fehlt an evidenzbasierten Studien
Groß angelegte Studien generieren das notwendige Wissen für eine evidenzbasierte Medizin. Diese sogenannten randomisierten kontrollierten Studienerheben Nutzen und Schaden einzelner Untersuchungen. Für einzelne Bestandteile einer gynäkologischen Konsultation wie das Brustabtasten, die bimanuelle Palpation (Tastuntersuchung von Vagina und Unterbauch) sowie die präventive Ultraschalluntersuchung mangelt es an evidenzbasiertem Wissen um ihre Effektivität. Es gibt dazu also entweder keine Studien oder in den vorhandenen konnte (bisher) kein klarer Nutzen für die Patient*innen festgestellt werden.
Mühlhauser verweist auf eine Studie von 2017, die sich der Inspektion und Palpation des äußeren und inneren Genitales widmet, also dem Anschauen und Abtasten der Vulva und Vagina. Die US Preventive Service Task Force hat systematisch Literatur zum Nutzen, der Wirksamkeit und dem Schaden dieser gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung gesichtet und kommt zum Ergebnis: keine Empfehlung für diese Untersuchung. Dem schließt sich Mühlhauser an: „Es ist völlig unsinnig, Menschen zu untersuchen, die gesund sind. Außer es gibt dafür einen wissenschaftlichen Beleg.“ Und die Beweislast liege bei denjenigen, die etwas empfehlen.
Nutzen oder Schaden?
Doch auch bei denjenigen Vorsorgeuntersuchungen, zu denen es Studien gibt, werden die Daten von Fachpersonen unterschiedlich interpretiert. Zum Beispiel lässt sich die Früherkennung einer Krebsvorstufe als Nutzen einordnen. Beziehen wir jedoch mit ein, dass der Krebs sich ohne die Vorsorgeuntersuchung vielleicht niemals bemerkbar gemacht hätte, handelt es sich um einen Schaden. Eine unnötige Behandlung – also wenn beispielsweise operiert wird, obwohl das nicht notwendig gewesen wäre – gilt medizinisch gesehen als Schaden. Und auch die psychischen Folgen einer Fehldiagnose oder eines Verdachtsbefundes sind schädlich. Oftmals sind endgültige Aussagen über Nutzen und Schaden schwierig und komplex. „Das ist die Krux mit der Vorsorge“, fasst Mühlhauser zusammen.
Vaginaler Ultraschall
Als weiteres Beispiel nennt sie den vaginalen Ultraschall. In Deutschland werde dieser im Rahmen einer gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung nach wie vor häufig durchgeführt. Die Kosten dafür müssten die Patient*innen jedoch selbst tragen. Denn hierzu gäbe es gute randomisierte Studien, die belegen, dass diese Untersuchung keinen Nutzen hat. Sie trägt nicht dazu bei, dass weniger Menschen an Eierstockkrebs sterben. Aber ein beträchtlicher Anteil der untersuchten Personen kommt zu Schaden aufgrund von Verdachtsbefunden oder unnötigen operativen Eingriffen.
Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs
Auch über die Vorsorgeuntersuchung zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs wissen wir bereits einiges. Hier zeigt die evidenzbasierte Medizin, dass der Krebsabstrich einen Nutzen aufweist. In der Schweiz wird er seit den 70er-Jahren durchgeführt, seit Anfang der 80er-Jahre haben die Neuerkrankungen um die Hälfte abgenommen, was laut Krebsliga auf die Früherkennungsmaßnahmen sowie auf verbesserte Hygiene zurückzuführen ist. Dennoch liegt eine Überversorgung vor. Die SGGG empfiehlt den Krebsabstrich seit 2018 für 21- bis 70-Jährige ohne zusätzliche Risiken nur noch alle drei Jahre. Die Krankenkassen vergüten ihn im Normalfall auch bloß in dieser Häufigkeit. Eine repräsentative Studie des Bundesamts für Gesundheit (BAG) von 2016 zeigt jedoch, dass bei sieben von zehn Frauen weiterhin jährlich ein Krebsabstrich gemacht wird. Auch in ihren „7 dont’s in Gynäkologie und Geburtshilfe“ von 2019 betont die SGGG: „Kein jährlicher zytologischer Abstrich bei Frauen ohne erhöhtes Risiko“. Diese Empfehlung wird aber bei weitem nicht von allen Gynäkolog*innen übernommen und weitergegeben. Ebenso wenig von der Krebsliga, die in ihrer Broschüre zu Gebärmutterhalskrebs von 2020 bloß schreibt, dass „eine regelmässige Kontrolle und Beratung“ entscheidend seien. Thomas Eggimann, der Generalsekretär der SGGG, betont auf meine Anfrage hin: „Viel wichtiger, wenn es um Konsultationen geht, sind die 4 Cs: Complaints, Cancer Detection, Contraception, Councelling“. Eine regelmäßige Kontrolle mit Gespräch sei bei den meisten Frauen sinnvoll, der Rhythmus könne dabei von vierteljährlich in der Krebsnachsorge bis alle drei Jahre bei gesunden Frauen ohne Risiko variieren.
Über-, Unter- und Fehlversorgung
In der gynäkologischen Versorgung haben wir es heute gleichzeitig mit einer Über-, Unter- und Fehlversorgung zu tun. Gesunde, beschwerdefreie Patient*innen sind häufig überversorgt, Risikogruppen und marginalisierte Bevölkerungsgruppen – etwa Menschen mit Behinderungen, lesbische und bisexuelle Frauen sowie trans Personen mit Vulva oder Neo-Vagina, Menschen, die von Rassismus betroffen sind, geflüchtete Personen, mehrgewichtige Personen und armutsbetroffene Personen – sind in der Regel fehl- und/oder unterversorgt. Das gilt für das gesamte Gesundheitswesen, zeigt sich jedoch insbesondere an der gynäkologischen Versorgung und in Bezug auf die sexuelle, reproduktive und psychische Gesundheit. Die Co-Geschäftsleiterin der LOS, Alessandra Widmer, weist mich auf eine kürzlich erschienene Studie zur Gesundheit von LGBT Personen in der Schweiz hin. „Darin bewahrheitete sich, was wir schon lange vermuten“, sagt sie im Gespräch: „Für Lesben, Bisexuelle und queere Frauen bestehen Zugangsbarrieren zur gynäkologischen Versorgung“. Auch eine zuvor in der Westschweiz erschienene Studie kam zum Schluss, dass nur 69 Prozent der befragten Frauen im Verlaufe der letzten drei Jahre zu einer gynäkologischen Kontrolle gegangen sind.Gründe dafür sind einerseits mangelnde Motivation, da der Glaube bestehe, gynäkologische Untersuchungen seien vor allem für Fragen der Empfängnisverhütung zuständig. Andererseits werden diskriminierende Erfahrungen und ganz grundsätzlich die queerfeindliche und heteronormative Medizin genannt. „Gynäkologische Fachpersonen sind oft nicht genügend sensibilisiert auf queere Personen und ihre Bedürfnisse, haben Wissenslücken oder verfügen über Fehlinformationen“, betont Widmer. In ihrer demnächst erscheinenden Informationsbroschüre empfiehlt die LOS eine erste gynäkologische Untersuchung für Personen mit Vulva, die Sex mit Personen mit Vulva haben, spätestens mit 21 Jahren. „Eine Untersuchung, ein Gespräch oder eine Beratung können aber auch schon davor Sinn ergeben“, stellt Widmer klar.
Verkörperte Erfahrung
Wenn ich an meine gynäkologischen Untersuchungen denke, denke ich zuallererst an Gegenstände. Und ich fühle sie. Ich spüre Kälte und Nässe, Metall und Plastik, Gleitgel und Papierunterlagen. Meine verkörperte Erfahrung eilt mir voraus. Der Grund dafür, dass mir genau diese Dinge, Empfindungen und Materialien einfallen, ist, dass ich es nicht anders kenne. Medizin machte auf mich lange den Eindruck, alternativlos zu sein. Das beginnt bei der Sprache, die ich meist nicht verstehe, und geht bis hin zu Behandlungsmethoden und den räumlichen Gegebenheiten. So habe ich fast mein ganzes Erwachsenenleben lang nie darüber nachgedacht, ob und wofür es den gynäkologischen Stuhl braucht, wie oft ich zur Gebärmutterhalskrebsvorsorge gehe und – etwas grundsätzlicher – wieso ich überhaupt so oft zur Ärzt*in gehe, wenn ich doch eigentlich gesund bin. Ich realisiere, dass die Medizin auf mich noch immer und noch mehr als andere Wissenschaften den Eindruck erweckt, unantastbar zu sein. Ich hinterfrage wenig, auch, weil ich glaube, dass mir dazu Wissen und Expertise fehlen. Und sowieso: Gibt es denn überhaupt Alternativen? Dieser Frage gehe ich in der Fortsetzung dieses Textes nach.
Lea Dora Illmer studiert Philosophie und Gender Studies. Sie forscht in ihrer Masterarbeit zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz.