Paradies statt Kontrollverlust
Es könnte auch ganz anders sein: Die Frauengesundheitsbewegung hat Gegenorte zur herkömmlichen gynäkologischen Praxis ermöglicht und Untersuchungsobjekte wie Spekulum und Gyn-Stuhl verändert. Von Lea Dora Illmer
Muss die Gynäkologie so sein, wie wir sie kennen? Mir kamen erst dann Zweifel, als ich von Orten hörte, wo es anders ist. Genauer: von der sagenumwobenen Paradies-Praxis. Vielleicht nicht per se paradiesisch, aber zumindest paradiesvogelhaft kam es mir vor, dass ein sogenanntes feministisches Gesundheitszentrum in Binningen, Baselland, Medizin anders lebte: Holzbetten statt gynäkologischer Stühle, bunte Bettwäsche statt Papierunterlagen. Keine weißen Kittel, sondern gewöhnliche Kleidung. Duzen statt Siezen. Das Wartezimmer sieht aus wie ein Lokal, die Regale sind vollgestellt mit feministischen Büchern. So kann es also auch aussehen, dachte ich mit skeptischer Neugierde. Aber ist das wirklich erlaubt?
Gruppenpraxis Paradies
Ich war im Gegensatz zu vielen meiner Freund*innen und deren Müttern nie im Paradies. Die Praxis ist im Raum Basel, in dem ich lebe, jedoch berühmt. Oder besser gesagt: Sie war es. Denn mittlerweile ist sie geschlossen. Sie war eine der letzten sogenannten „Frauengesundheitszentren“, die in den 80er-Jahren aus der Frauengesundheitsbewegung heraus entstanden sind. Es handelte sich dabei um einen Ort, an dem Feministinnen(1) versuchten, der patriarchal geprägten Medizin etwas entgegenzusetzen. Und das begann bei der Einrichtung. „Die Gruppenpraxis Paradies war wirklich ein paradiesischer Ort“, sagt Beatrice zu mir, als ich sie und ihre Tochter Laura zum Gespräch treffe. Beide waren ihr Leben lang im Paradies, bei der gleichen Hebamme, die Laura auch zur Welt brachte. In der kollektiv organisierten Gruppenpraxis aus Ärztinnen, Hebammen und Frauengesundheits-Fachfrauen haben auch Nicht-Ärztinnen in Zusammenarbeit mit Ärztinnen Vorsorgekontrollen bei gesunden Frauen durchgeführt. Beatrice und Laura gingen die gesamte Zeit hindurch bei einer Hebamme zur Vorsorgekontrolle. „Diese wurde bei mir damals schon ‚nur‘ alle zwei bis drei Jahre gemacht“, erinnert sich Laura.
Beatrice erzählt: „Es war ein schönes, altes Haus. Es hat gut gerochen.“ Und noch etwas sei ihr in Erinnerung geblieben: „Die Handtücher, die spüre ich noch heute. Die waren nicht mit Weichspüler gewaschen, sondern etwas ruch, wie bei mir zuhause“. Laura kannte das Paradies schon aus Erzählungen von ihrer Mutter, bevor sie zum ersten Mal dort war. Es erzeugte für sie Vertrauen, dass sie die besagte Hebamme schon kannte. Auch sie erinnert sich an die Oberfläche des Betts: Spannbettlaken aus Frottee. Und an das Wartezimmer, das eher ein Café war. „Dort hing von allen, die dort arbeiteten, ein Bild und eine Beschreibung, was sie machten“, sagt Laura. „Es gab so tolle Hefte und Bücher, eigentlich wolltest du am liebsten dort sitzen bleiben“. Außerdem erinnere sie sich daran, beim Betreten des Raumes bereits die Schuhe auszuziehen. „Auch bloß zum Schwätzen“, sagt sie, „wie wenn du bei jemandem zuhause auf Besuch bist“.
Der Ort, an dem telefoniert und wo Termine abgemacht wurden, war sehr prominent. Man musste daran vorbeilaufen. Man hat also immer mitgehört, was da besprochen und wie mit den Menschen umgegangen wurde, die gerade etwas brauchten. „Das hatte etwas von einer Enttabuisierung“, stellt Laura fest, „Namen standen dabei nicht im Vordergrund.“ Da alle Personen der kollektiv organisierten Gemeinschaftspraxis Telefondienst gemacht haben, hat man immer wieder Empfehlungen unterschiedlicher Personen (mit-)bekommen. „Auch, wenn du selbst angerufen hast“, sagt Laura. Das sei ein Beispiel dafür, wie Wissen an diesem Ort zirkulierte, erzählt sie weiter. „Und wenn sie unsicher waren, haben sie sich ausgetauscht“, auch vor den Patient*innen. Das trug – genau wie die Einrichtung – dazu bei, den Allwissenheitsmythos der „Halbgötter in Weiß“ zu brechen. Besonders war am Paradies, dass die Untersuchungen meist auf dem Bett durchgeführt wurden, und nur sehr selten auf dem gynäkologischen Stuhl.
Ohne sie gäbe es keinen Fortschritt: die Frauengesundheitsbewegung
Im Rahmen meiner Beschäftigung mit der sogenannten Frauengesundheitsbewegung bin ich auf einige dieser Gegenorte wie das Paradies und deren Ursprünge gestoßen. Die Frauengesundheitsbewegung ist in den 1970er-Jahren aus damaligen feministischen Bewegungen heraus entstanden – und mit ihnen verwoben. Sie formierte sich an der Schnittstelle von anderen sozialen Bewegungen, etwa der Hebammen-, Hausbesetzer*innen-, 68-er-, Schwulen- und Lesben- und der Behindertenbewegung. Beeinflusst vom US-amerikanischen „Women’s Health Movement“ entwickelte sich die Frauengesundheitsbewegung auch im deutschsprachigen Raum, vor allem in Westdeutschland, aber auch in Österreich und in der Schweiz.
Es handelt sich keineswegs um eine einheitliche Bewegung, sondern um unterschiedliche Strömungen mit mannigfachen Anliegen. Diese waren kontextabhängig und lokal geprägt. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten ausmachen: Die Feminist*innen dieser Bewegung beschäftigten sich mit Körperpolitiken, mit selbstbestimmter Sexualität und ganzheitlicher Gesundheit. Das bedeutete auch, Gesundheit nicht als Individualschicksal zu begreifen, sondern gesellschaftliche Verhältnisse mitzudenken. Zentral war die Frage: Wie gesund können wir sein in einem kranken(den), patriarchalen System? Zu Beginn lag ein Fokus auf dem straffreien Schwangerschaftsabbruch. Ebendiese Fokussierung wurde jedoch bald kritisiert (vor allem von Vertreter*innen der „Reproductive Justice“-Bewegung) und es entstanden unterschiedliche thematische Schwerpunkte, beispielsweise Forderungen nach einer gewaltfreien Geburt oder nach sexueller Selbstbestimmung.
Expert*innen für den eigenen Körper
Die Frauengesundheitsbewegung gründete an verschiedenen Orten auf der Welt Gruppen und Räume, die der Bewusstseinsbildung und dem Erfahrungsaustausch dienten – von Frauenforen bis zu autonomen Zentren und Beratungsstellen, Nottelefonen, Selbstuntersuchungsgruppen und Gesundheitsläden. Wichtig war, dass jede Person selbst als Expert*in ist für ihren Körper und ihre Gesundheit galt.
Daraus folgte der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe, der in den ab Ende der 70er gegründeten Frauengesundheitszentren Anwendung fand. Als erstes solches Zentrum entstand 1974 das das Feministische Frauengesundheitszentrum Berlin. In der Schweiz dauerte es noch ein paar Jahre länger: In Genf eröffnete 1979 das Dispensaire des Femmes, die Paradies-Praxis in Basel folgte im Sommer 1980. Ein großer Unterschied zwischen den deutschen Zentren und denjenigen in der Schweiz ist, dass die Schweizer Institutionen von Anfang an zum Ziel hatten, Hierarchien im medizinischen Bereich zu durchbrechen. FFGZ-Mitbegründerin Dagmar Schultz, schreibt über die Schweizer Zentren: „Ärztinnen arbeiteten zusammen mit Krankenschwestern und Gesundheitsarbeiterinnen ohne schulmedizinische Ausbildung.“ Alle verdienten gleich viel, Beratungen und Behandlungen konnten aufgrund der Mitarbeit von Ärztinnen über die Krankenkassen abgerechnet werden. In der Schweiz wurden auch gynäkologische Versorgung und Schwangerschaftsabbrüche angeboten. Die Zentren in Deutschland und Österreich waren anders aufgebaut und von Beginn an auf (Gruppen-)Beratungen spezialisiert, etwa zu Sexualität, Schwangerschaft, vaginalen Infektionen, Brustuntersuchung und Verhütung; später auch zu Krebs, Blasenerkrankungen, Menopause und Zahnselbsthilfe. Medizinische Behandlungen werden nicht angeboten. Im Gegensatz zu denjenigen in der Schweiz existieren die meisten feministischen Frauengesundheitszentren(2) in Deutschland noch heute.
Auf Kissen gebettet
„Bei mir liegt man in den Kissen“, sagt die Gynäkologin und Sexologin Regina Widmer zu mir. „Ich habe nie anders gearbeitet, als in den Kissen zu liegen.“ Das meint sie wortwörtlich. Sie arbeitet mit einer Gyni-Liege, die sie selbst gebastelt hat. Die Basis davon bildet eine Massageliege, an einem der Längsseiten sind zwei Beinhalterungen angeschweißt. Auf den Beinhalterungen stecken selbstgestrickte Socken, daneben liegen einige Kissen und eine Decke. In ihrer gynäkologischen Praxis, der Runa-Praxis in Solothurn, gibt es nur für zwei Fälle einen klassischen gynäkologischen Stuhl: Für das Einlegen einer Spirale und für Abtreibungen. Für alles andere reicht ihre Gyni-Liege. Widmer erzählt, dass ihre Zeit im Frauenambulatorium in Zürich – einem weiteren Frauengesundheitszentrum der ersten Stunde – für ihre Arbeitsweise prägend war. Für eine Arbeitsweise ohne gynäkologischen Stuhl also, ohne „Folterstuhl“, wie ihn viele Feminist*innen nannten. „Das macht viel weniger Angst als dieser Stuhl“, betont auch eine der Gründerinnen der Paradies-Praxis im Gespräch mit mir. Sie wendet ein, dass er dennoch manchen Frauen Sicherheit verleihe. Es sei eben „ein goldenes Kalb“, ein Statussymbol.
Ich besuche Marianne Mattmüller in Solothurn, in ihrer gemeinsamen Praxis mit der anderen ehemaligen Paradies-Ärztin Lilian Saemann. Im Wartezimmer stoße ich auf altvertraute Bücher: „Frauenkörper neu gesehen“(3) und „Our Bodies, Ourselves“(4). Marianne nimmt sich Zeit, mit mir über ihre Arbeitsweise zu sprechen. Sie ist (wie Regina Widmer) eine halbe Generation jünger als die Paradies-Gründerinnen. Aber auch sie hat die Frauengesundheitsbewegung in Basel miterlebt. Sie war seit Beginn der Praxis selbst Patientin im Paradies, danach hat sie beinahe dreißig Jahre lang da gearbeitet, bis zum Schluss.
Der gynäkologische Stuhl taucht in all meinen Gesprächen auf. Er steht symbolisch für das, was Feminist*innen ablehn(t)en: eine patriarchale, frauenfeindliche und fremdbestimmte Medizin(5), das Gefühl des Ausgeliefertseins und des Kontrollverlustes. „Heute sind gynäkologische Stühle meist bequem“, wendet Marianne ein, „das Gefühl des Exponiertseins erleben aber viele genauso wie auf älteren Modellen“.
Zu den bequemeren Stühlen hat die Frauengesundheitsbewegung ihren Teil beigetragen. Eine Hydraulik, die das aufrechte Sitzen erlaubt und die Patient*innen anschließend herunterfährt, sowie breite Trittbretter statt Beinhaltern, die den Grad der Spreizung variieren lassen – diese Neuerungen haben wir der Kritik von Feminist*innen zu verdanken. Und dennoch: Marianne möchte keinen gynäkologischen Stuhl verwenden, aus Prinzip. „Wofür auch?“, fragt sie rhetorisch. Sie hätten damals im Paradies gelernt, alles anders zu machen. Das brauchte Mut, aber im Kollektiv ging es gut. Ich frage bei meinen Gesprächspartnerinnen immer wieder nach, wofür dieser Stuhl denn überhaupt gebraucht werde. Alle sagen das Gleiche: „Um eine Spirale einzulegen oder einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, musst du auf den Muttermund gucken können, steril arbeiten, gutes Licht haben und das Becken hoch lagern.“ Dafür ist der Stuhl sinnvoll. Das betrifft jedoch nur einen Bruchteil aller Untersuchungen. „Für die aberhunderte von Krebsabstrichen“, so eine der Gründerinnen, „braucht es keinen Stuhl“. Außer jemand habe anatomisch „ungünstige Verhältnisse“, was äußerst selten der Fall sei.
Spieglein, Spieglein in der Hand
Neben dem umstrittenen Stuhl gibt es einen zweiten Gegenstand, der aus meinen Gesprächen genauso wie aus gynäkologischen Untersuchungen nicht wegzudenken ist: das Spekulum, auch „Scheidenspiegel“ genannt.
Mir fällt auf, dass die beiden unterschiedlich konnotiert waren und sind. Das Spekulum wurde von Feminist*innen der Frauengesundheitsbewegung wortwörtlich selbst in die Hand genommen. Es erlaubt den Blick auf den Muttermund, war somit das wichtigste Attribut einer Selbstuntersuchung, wurde damals auf Demos mitgeschleppt und als selbstermächtigender Gegenstand auf feministischen Flyern abgebildet.
Und doch gab es auch andere Stimmen. In den 80er-Jahren bezeichnete Luce Irigaray das Spekulum als „Symbol für männliche Herrschaft“; Ende der 90er-Jahre schreibt Donna Haraway kritisch darüber, wie überwiegend weiße Frauen aus der Mittelklasse das „masters’ tool“ beschlagnahmten und ihre Körper sprichwörtlich für den eigenen Blick öffneten. Rückblickend sei es fraglich, ob Feminist*innen die richtigen Werkzeuge ergriffen hätten. Die Art und Weise des Zugriffs auf den Frauenkörper, der objektivierende, medizinische und in gewisser Weise auch koloniale Blick wurde nach Haraway kaum hinterfragt. Und so hoch angesehen Selbstuntersuchungen in den Frauenräumen der 70er- und 80er-Jahre auch waren, so kritisch beäugt wurde die Künstlerin Annie Sprinkle von Feminist*innen, als sie sich in den 90er-Jahren im Rahmen einer Kunstperformance für eine gynäkologische Schau im öffentlichen Raum zur Verfügung stellte.
Als symbolträchtiges Objekt ist das Spekulum auch heute immer wieder Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzungen – etwa bei Nao Bustamante, die in ihrem Kunstprojekt provokativ die Menschheit fragt: „Mondlandung aber kein bequemes Spekulum?“ Sie fing daraufhin an, in Workshops mit anderen Personen selbst welche herzustellen. Weniger künstlerisch, dafür aktivistisch arbeitet das Bio-Hacker-Kollektiv GynePunc aus Barcelona. Die selbsternannten „Cyborg Witches of DIY Gynecology“ stellen DIY-Kits für gynäkologische Notfalluntersuchungen und -behandlungen zur Verfügung, um mit selbstorganisierten Strukturen auf die staatliche Unterversorgung queerer Personen, Sexarbeiter*innen und von Rassismus sowie Armut betroffener Personen zu reagieren. Bei meiner Recherche begegnet mir außerdem eine 3D-Druckanleitung für ein Spekulum, das GynePunc zusammen mit dem Mikrotechniker Urs Gaudi entwickelt hat.
Scham & Technik
Mich fasziniert die Tatsache, dass das Spekulum und der gynäkologische Stuhl als Antagonist*innen zutage treten, obwohl ihre Geschichte ziemlich ähnlich ist. Sie fanden beide im 19. Jahrhundert Verbreitung und dienten dem „objektiven“ Blick auf den pathologisierten Frauenkörper. Der Zeitpunkt ist kein Zufall, handelt es sich doch um ein Jahrhundert der Technikbegeisterung. Diese Entwicklung erreichte auch die Medizin: Nie mehr zuvor oder danach wurden so viele Instrumente in der medizinischen Geburtshilfe erfunden wie um die Jahrhundertwende.
„Um 1860 herum findet ein Wandel in der geburtshilflichen Untersuchung statt“, erklärt mir die Medizinhistorikerin Karen Nolte. Sie hat die geburtshilfliche Sammlung in Würzburg wissenschaftlich erschlossen und beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte gynäkologischer Gegenstände. Dazu konsultiert sie etwa Herstellerkataloge und Lehrbücher. Auch vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es Spekula, mit Sicherheit ab dem 17. Jahrhundert, aber nicht alle Frauen wurden damit untersucht. „Sondern nur ‚gefallene‘ Frauen, etwa Frauen, die Geschlechtskrankheiten hatten“, sagt Nolte. Der Grund dafür sei ein „Scham-Diskurs“. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde im deutschsprachigen Raum darüber diskutiert, ob es statthaft sei, „ehrbare“ Frauen mit dem Spekulum zu untersuchen. Es galt als „sittlich verfänglich“, der Frau in das Genital zu schauen. Stattdessen wurde ertastet. Tastuntersuchungen fanden auf zwei Arten statt: Entweder die Frau stand bekleidet, während der Untersuchende vor ihr knieend mit abgewandtem Blick ihre Vagina abtastete. Oder die Frau lag und dasselbe geschah unter der Bettdecke oder hinter einem Vorhang. Auf dem Gesicht der Frau konnte folglich nicht abgelesen werden, ob die Untersuchung unangenehm war. Hebammen und Geburtshelfer wurden zu dieser Zeit eingewiesen in „zielgerichtetes Tasten“, um unsittliche Absichten zu unterbinden. Weil das Tasten unmöglich an Frauen geübt werden konnte, gab es Tastmodelle von Muttermündern mit verschiedener Beschaffenheit aus Ton oder Harz.
Vom Scheidenhalter zum Mutterspiegel
Ab 1860 ändert sich das, auch in den Lehrbüchern. Hier taucht fortan selbstverständlich die Untersuchung mit dem Spekulum auf. Es dient dazu, den Muttermund, also die Portio, und die Vaginalwände anzuschauen. Es erlaubt den Blick auf die Gebärmutter, weswegen es bis ins 19. Jahrhundert von Ärzten auch „Mutterspiegel“ genannt wird. Das zweiteilige Spekulum wurde aller Wahrscheinlichkeit nach, so Nolte, aus Operationsinstrumenten entwickelt, namentlich dem sogenannten „Scheidenhalter“. Letztere fanden bereits viel früher für operative Eingriffe von Chirurgen und Wundärzten Anwendung. „In diesem Zusammenhang“, so Nolte weiter, „entstehen auch die Untersuchungsstühle“. Man könne schließlich schlecht untersuchen, wenn die Frau steht. Im Stehen waren der Beckenboden und die Po-Muskulatur angespannt und die Därme drückten auf die Organe des Unterleibs. Das ist in der sogenannten Steinschnittlage nicht der Fall, hier kann der Beckenboden entspannt werden. Der Begriff Steinschnittlage kommt daher, dass früher die Steinschneider*innen in dieser Lage die Blasensteine entfernt haben, erklärt mir die Medizinhistorikerin Marion Hulverscheidt. Der gynäkologische Stuhl war zuallererst dem Operationstisch nachempfunden. Daneben gab es sogenannte „Speculiersessel“, die vermutlich in Privatpraxen Verwendung fanden. Nolte zeigt mir ein Bild davon, der Sessel verdient seinen Namen, er sieht eigentlich ganz bequem aus – anders die frühen gynäkologischen Stühle, bei denen die Beine festgeschnallt wurden. Ein weiterer Hinweis auf die Anlehnung an das Operationssetting. „Es gab auch Beinhalter, also Stangen mit Riemen am Ende, um die Beine während der Geburt auseinanderzuhalten“, ergänzt Nolte.
Spekula wie Blumenvasen
Nolte beobachtet, dass sich mit dem Zurückgehen des „Scham-Diskurses“ im Laufe des späten 19. Jahrhunderts dann auch die Spekula veränderten, je nachdem, was sittlich ist. „Sie werden sukzessive so konstruiert, dass die Vagina immer weiter geöffnet werden kann“, sagt sie. Die frühesten Spekula, die mich stark an die Tonobjekte der Künstlerin Neo Spumante erinnern, waren röhrenförmig und hatten eine Einführ-Hilfe. Sie sehen aus wie Blumenvasen. Die allerersten Röhrenspekula waren aus Kuhhorn gefertigt, in unterschiedlichen Größen. Später waren sie aus Silber und hochpoliert, damit das Licht reflektierte. Aber insgesamt wurde nicht viel freigegeben. Für schnelle Untersuchungen bei Geschlechtskrankheiten gab es bald solche aus Glas, Bakelit und Metall, die schnell gereinigt werden konnten und nicht allzu wertvoll waren. Zweiteiligen Spekula weiteten den Blick in das Genital schließlich. Davon gab es verschiedene Modelle, etwa das berühmte Schnabelspekula zum Einrasten. Dieses erlaubt, dass beide Hände zum Untersuchen frei bleiben, während das „richtige“ Zweiteilige die Anwesenheit einer Assistenz erfordert.
Auch in Bezug auf Spekula und ihre Anwendung hat die Frauengesundheitsbewegung einiges bewirkt. „Das Folter-Gefühl, das die Frauengesundheitsbewegung beschreibt, kam vor allem durch die Kälte des Materials und die wenig zartfühlende Einführung des Arztes“, erklärt Hulverscheidt. Spekula in verschiedenen Größen vorrätig zu haben, diese vor dem Gebrauch anzuwärmen und die Patient*in zu fragen, ob sie es selbst einführen oder das obere Blatt während der Untersuchung selbst halten möchte, sind Entwicklungen, die Feminist*innen angestoßen haben.
Erfahrungen austauschen
Ich betrachte den vergilbten Flyer in der Zeitschrift Emanzipation (Anm. s. Artikel „Gynäkologie: Wie es gleichzeitig eine Über-, Unter- und Fehlversorgung geben kann“) erneut. Ganz unten steht: „Es ist wichtig, gute oder schlechte Erfahrungen mit Ärzten anderen Frauen weiterzugeben, damit diese nicht die gleichen Fehler auch machen müssen.“ Diese Praktik des Erfahrungsaustauschs und der Dokumentation nehmen Feminist*innen heute wieder auf. Weil, wie die Philosophin Sara Ahmed sagt, wir Struktur brauchen, um Struktur zu beweisen. Und weil gewisse Ungerechtigkeiten noch nicht vorbei sind. Projekte wie Gynformation oder Queermed sind auf intersektionale Empfehlungen ärztlicher Fachpersonen spezialisiert, die LOS führt eine Liste mit queerfreundlichen Gynäkolog*innen, die sie auf Anfrage weitergibt. Und auch darüber hinaus können wir einiges von vergangenen feministischen Gesundheitsbewegungen lernen. Angefangen damit, dass wir Wissen brauchen, um selber zu bestimmen. Wissen darüber, wieso die Dinge so sind, wie sie sind und was sie für eine Geschichte haben. Darüber, dass es auch anders sein könnte. Dass Gegenstände symbolisch sind – und Symboliken sich ändern können. Wir können uns Symboliken aneignen, sie umdeuten, wie im Falle des Spekulums, oder sie ablehnen und Alternativen schaffen – wie beim gynäkologischen Stuhl. Wir benötigen Wissen über die Notwendigkeit und Effektivität von Behandlungen und Untersuchungen. Und dort, wo es fehlt (Spoiler: an ziemlich vielen Orten), brauchen wir Wissen und Werkzeuge, um es einzufordern. Wir müssen Alternativen und Gegenorte erst kennen, um zu entscheiden, was wir wollen, wünschen, brauchen. Und natürlich müssen diese existieren. Oder existiert haben. Also müssen wir uns erinnern.
Fußnoten:
(1) Ich verwende hier das generische Femininum, weil im Paradies – wie in allen Frauengesundheitszentren – explizit nur Frauen arbeiteten. Der Leitspruch war: „Von Frauen für Frauen“.
(2) Einige Zentren bemühen sich um Geschlechterinklusion und sind nicht mehr nur für Frauen, etwa das FF*GZ in Stuttgart, das sich um eine intersektionale Weiterentwicklung der Ausrichtung bemüht und seine Angebote an Frauen, trans und non-binäre Personen richtet.
(3) Das englische Original „A New View on Woman’s Body“ sorgte ab den 70er Jahren in den USA für Aufsehen, weil es detailgetreue Abbildungen von Geschlechtsorganen zeigt, etwa von Vulva, Vagina und Klitoris. Daneben sammelt es alternative Erkenntnisse außerhalb der wissenschaftlichen Medizin.
(4) „Our Bodies, Ourselves“ oder „Unser Körper, unser Leben“ erschien erstmals 1971 und ist das bekannteste Handbuch „von Frauen für Frauen“ der Frauengesundheitsbewegung. Es wurde in 31 Sprachen übersetzt, an lokale Kontexte angepasst und verkaufte sich bis heute mehr als vier Millionen Mal.
(5) James Marion Sims gilt als „Vater der modernen Gynäkologie“. Sims gründete das erste „Women’s Hospital“ in den USA auf einer Sklav*innenfarm in Alabama, wo er von 1844 bis 1849 an versklavten Frauen experimentierte, meist in Form von Operationen ohne Anästhesie. Seit einigen Jahren wird seine rassistische und koloniale Geschichte aufgearbeitet und die bisherige Glorifizierung seiner Person kritisiert. Im Zuge dessen wurde eine Statue seiner Person im Central-Park 2018 abgebaut (allerdings wurde sie auf dem Green-Wood Cemetery, wo Sims begraben liegt, wieder errichtet).
Lea Dora Illmer studiert Philosophie und Gender Studies. Sie forscht in ihrer Masterarbeit zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz.