Intersex: Normierung von Geschlecht
Welche Freiheiten haben intergeschlechtliche Menschen in einem System, das nur zwei Geschlechter zulässt? Von Bettina Enzenhofer und Paul Haller
In mehr als zwanzig EU-Staaten werden geschlechtsnormierende Operationen an intergeschlechtlichen Kindern durchgeführt. Intergeschlechtlichkeit ist jedoch kein krankheitswertiger Zustand, sondern bedeutet schlicht, dass sich Geschlechtsmerkmale anders ausgeprägt haben, als es in einem Zweigeschlechtersystem erwartet wird. Gesellschaft, Medizin und Recht gehen davon aus, dass alle Menschen bei der Geburt in männlich oder weiblich kategorisierbar sind. Wird ein Kind geboren, dessen Genitalien sich nicht in dieses System einordnen lassen, spricht die Medizin von einem „psychosozialen Notfall“ bzw. einer „Störung der Geschlechtsentwicklung“ und rechtfertigt damit medizinische Interventionen. Seit den 1990er-Jahren treten international Intersex-Aktivist*innen öffentlich auf und kritisieren vehement diese medizinischen Praktiken, die sie als Intersex Genital Mutilation (IGM) , also als Geschlechtsverstümmelung, bezeichnen.
Bislang ist Malta weltweit das einzige Land, das derartige fremdbestimmte, irreversible und medizinisch nicht notwendige Eingriffe per Gesetz verbietet. Der 2015 verabschiedete „Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics Act“ wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Dachverband europäischer Intersex-Organisationen OII Europe erarbeitet und gilt als Meilenstein in Richtung Schutz der körperlichen Unversehrtheit und somit der Verwirklichung fundamentaler Grundrechte von Inter*Personen. Doch wo bleiben die nächsten Schritte auf internationaler Ebene? Bereits 2013 forderte Juan Ernesto Mendez, UN-Sonderberichterstatter für Folter, ein weltweites Verbot von IGM. Derzeit beschäftigt sich der UN-Ausschuss gegen Folter mit der Thematik, Ende 2015 wurde Österreich befragt. Alex Jürgen*, jahrelanger Inter*Aktivist und Mitbegründer des Vereins Intersexueller Menschen Österreich (VIMÖ) und der Plattform Intersex Österreich (PIÖ), berichtete in Genf über medizinische Eingriffe, die auch hierzulande nach wie vor durchgeführt werden.
Von Freiheit in puncto körperlicher Selbstbestimmung und Unversehrtheit intersexueller Menschen kann also noch lange keine Rede sein, wie übrigens auch nicht bei der Wahl des Personenstands: In den meisten Ländern der Welt werden Menschen bei der Geburt immer noch in die juristischen Kategorien männlich oder weiblich gedrängt. Demgegenüber gibt es in Australien, Bangladesch, Dänemark, Indien, Malta, Nepal, und Neuseeland eine zusätzliche Kategorie wie „non specified“ bzw. ein „X“ im Pass. In der Öffentlichen Erklärung des Dritten Internationalen Intersex Forums aus Malta 2013 fordern Inter*Aktivist*innen zusätzliche Optionen des Geschlechtseintrags (z.B. nicht-binär) , die alle Erwachsenen und handlungsfähigen Minderjährigen wählen können. Wesentlich ist, dass eine neue juristische Geschlechtskategorie nicht nur intergeschlechtlichen, sondern allen Menschen offen steht. Denn in einer Gesellschaft, in der Intersexualität tabuisiert wird, käme es einem sozialen Stigma und Zwangsouting gleich, intergeschlechtliche Menschen von Geburt an und fremdbestimmt mit einer neuen Kategorie zu labeln. Genau das ist übrigens 2013 in Deutschland passiert, wenn auch so gut wie alle Medien falsch berichteten, indem sie von einer Wahlfreiheit beim Geschlechtseintrag sprachen. Tatsächlich bedeutet die damalige Änderung des Personenstandsgesetzes für intersexuelle Neugeborene, die als solche erkannt werden, dass sie gar keinen Geschlechtseintrag mehr bekommen. Der Menschenrechtsexperte Dan Christian Ghattas von OII Europe kritisiert neben der fehlenden Einbindung von Selbstvertretungsorganisationen in den Gesetzgebungsprozess, dass es sich hierbei eben nicht um eine Wahlfreiheit handelt. „Was wir brauchen, ist ein Ende der fremdbestimmten Geschlechtszuweisung, der Praxis geschlechtlicher Normierung und Verstümmelung sowie der medizinischen Definitionshoheit über Geschlecht“, erklärt OII Europe in einer Stellungnahme. Dass dafür auch 2016 noch gekämpft werden muss, ist ein Skandal.
Dieser Text erschien zuerst in Paradigmata 13/Frühling 2016.