Warum rassismuskritische Medizin unsere Zukunft ist
Was haben Entzündungswerte mit Diskriminierungserfahrungen zu tun? Warum führt der Racial Empathy Gap zu einer schlechteren medizinischen Behandlung? Und was muss sich dringend ändern, um allen Menschen ein Leben in Gesundheit zu ermöglichen? Von Shreyasi Bhattacharya
Es ist Dienstagnachmittag. Du hast starke Schmerzen. Was kommt dir zuerst in den Sinn: Direkt ins Krankenhaus zu gehen oder vielleicht zuerst einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen?
Für viele Menschen mit Rassismuserfahrungen ist es nicht selbstverständlich, bei akuten gesundheitlichen Problemen angstfrei medizinische Hilfe zu suchen. Sie plagt eine zermürbende Unsicherheit: Die Sorge, nicht ernst genommen oder gar diskriminiert zu werden, wirft einen Schatten auf die ohnehin schon belastende Situation.
Rassismus als kollektive Realität
Diese Erfahrungen sind kein Einzelphänomen, sondern schmerzhafter Teil einer kollektiven Realität. Aktuelle Studien aus Deutschland zeigen, dass besonders rassistisch markierte Frauen(1) medizinische Behandlungen aufschieben oder meiden, aus Sorge, nicht ernst genommen oder schlechter behandelt zu werden als andere. Fast zwei Drittel der Befragten des Ende 2021 erschienenen Afrozensus gaben an, dass ihre Ärzt:innen sie nicht ernst nehmen würden. Dies kann zu einer Verschlechterung ihrer Lebensqualität führen und sogar lebensbedrohliche Folgen haben, wenn ernsthafte medizinische Probleme unentdeckt oder unbehandelt bleiben.
Die unsichtbaren Folgen von Diskriminierung
Die negativen Auswirkungen von Rassismus zeigen sich zusätzlich ganz direkt, etwa im Zusammenhang zwischen Rassismuserfahrungen und einem schlechteren Gesundheitszustand sowie physischen Beschwerden. Chronischer Stress, der durch wiederholte Diskriminierungserfahrungen verursacht wird, kann das Immunsystem schwächen und Entzündungsprozesse im Körper fördern. Diese wurden beispielsweise in einer Studie anhand von drei Eiweißmolekülen gemessen, die als Reaktion auf Entzündungen im Körper ansteigen und oft ein Marker für das Ausmaß oder Vorhandensein dieser sind. Erfahrungen mit Rassismus können zu einem erhöhten Risiko für chronische Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes oder sogar zum vorzeitigen Tod führen. Insbesondere sind ein niedriges Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft in Deutschland sowie Erfahrungen mit alltäglicher Diskriminierung mit einer höheren Prävalenz(2) einer chronischen Erkrankung oder eines lang andauernden gesundheitlichen Problems wie Depressionen, koronaren Herzerkrankungen und Diabetes assoziiert. All diese Zusammenhänge sind in Studien gut belegt.
Wie beeinflusst die Postleitzahl unser Wohlbefinden?
Auch umweltbezogene, ökologische und geografische Faktoren wirken sich auf die Gesundheit rassifizierter Menschen aus. In Verbindung mit Diskriminierung kann dies bedeuten, dass rassifizierte Personen eher in ungesunden Umgebungen leben – näher an schädlichen Umwelteinflüssen – als nicht-rassifizierte Gruppen. Dies kann sich durch eingeschränkten Zugang zu Grünflächen oder ärztlicher Versorgung manifestieren und zu gesundheitlichen Ungleichheiten führen. In Köln zeigt sich beispielsweise ein deutliches Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Stadtbezirken, das auch auf ökonomische Ungleichheit und strukturellen Rassismus zurückzuführen ist: So beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in Mülheim sechs Jahre weniger als in Lindenthal.
Racial Empathy Gap
Rassismus hat noch weitere gesundheitliche Auswirkungen: Zum Beispiel darauf, wie lange rassistisch markierte Menschen in der Notaufnahme warten müssen. Eine US-amerikanische Studie analysierte die Behandlung von jungen Erwachsenen mit Brustschmerzen in Notaufnahmen. Generell gilt: Wenn jemand plötzliche, starke Schmerzen im Brustkorb hat, ist dies ernst zu nehmen und es sollte umgehend ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden. Das Ignorieren solcher Beschwerden kann lebensbedrohlich sein. Die Studie zeigte jedoch deutliche Unterschiede: Während weiße Männer durchschnittlich 34 Minuten und weiße Frauen 42,7 Minuten auf ihre Erstbehandlung warteten, warteten rassistisch markierte Männer ganze 44 Minuten und rassistisch markierte Frauen sogar 57,8 Minuten, bis sie in der Notaufnahme behandelt wurden.
Eine Erklärung für diese drastischen Unterschiede bietet der „Racial Empathy Gap“ (rassistische Empathielücke) im Gesundheitswesen, der in verschiedenen Studien untersucht und belegt wurde. Dabei handelt es sich um eine spezifische Dynamik, in der Empathie und Mitgefühl tendenziell stärker für Menschen weißer Hautfarbe empfunden werden. Im Kontext der Medizin führt der Racial Empathy Gap zu verzögerten Diagnosen, schlechteren Behandlungsergebnissen und einem generellen Mangel an Vertrauen in das Gesundheitssystem.
Leerstelle: Rassismus thematisieren
All diese Probleme sind bekannt. Doch in Deutschland und Österreich gibt es oft die Neigung, Rassismus als etwas zu betrachten, das vor allem in anderen Ländern existiert. Wenn Rassismus nicht explizit als Problem anerkannt wird, gibt es weniger Druck, Ressourcen für die Erforschung seiner Auswirkungen auf die Gesundheit bereitzustellen. Doch die Auswirkungen von Rassismus müssen nicht zuletzt im Medizinstudium gelehrt werden.
Während meines Medizinstudiums wurde in einer Vorlesung über die sozialen Determinanten von Gesundheit gesprochen. Faktoren wie zum Beispiel der sozioökonomische Status, das Bildungsniveau oder der Zugang zu Gesundheitsversorgung spielen eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung unserer Lebensqualität. Allerdings fiel mir während der Vorlesung auf, dass Diskriminierungserfahrungen und Rassismus nicht erwähnt wurden. Als ich diesen fehlenden Aspekt ansprach, fragte mich die dozierende Person überrascht, an welcher Stelle Rassismus als Teil der sozialen Determinanten der Gesundheit wohl berücksichtigt werden sollte. Meine Antwort darauf lautete: „Überall.“ Denn Diskriminierung und Rassismus durchdringen unsere Gesellschaft auf vielfältige Weise und haben direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen. Solche Zusammenhänge werden in der medizinischen Ausbildung nicht behandelt. Während meines fast siebenjährigen Studiums wurde nie erwähnt, dass Rassismus meine klinischen Entscheidungen als Ärztin beeinflusst.
Medizinische Ausbildung: Das versteckte Curriculum
Wer definiert die Norm in der Medizin? Welche Perspektive stellt die klassische Pädagogik in den Mittelpunkt des Diskurses? „Nothing about us, without us, is for us“, zitierte eine Professorin, als ich in den USA in einem Seminar über das versteckte Curriculum saß. Das versteckte Curriculum ist das, was Lehrende den Studierenden beibringen, ohne es selbst zu merken: durch ihre Interaktionen, ihren Habitus und den vorgegebenen akademischen Raum. Es besteht aus unausgesprochenen Werten, Überzeugungen, Normen und Kultur.
Wie sähe die Medizin – in ihrer Ausbildung, Praxis und ihren Annahmen – aus, wenn sie das Wissen und die Erfahrungen einer breiten Palette von Menschen zur Basis nehmen würde: Menschen, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind, Community-Organizer, queere Personen und Menschen mit Behinderungen, um nur einige zu nennen?
Die medizinische Lehre kann diese Diversität fördern, indem sie bisher marginalisierte Gruppen in den Mittelpunkt von Programmen und Lehrplanentwicklung stellt. Dabei sollte die eine Gruppe nicht die andere ersetzen, sondern ergänzen.
In seinem Buch „Health and Culture: Beyond the Western Paradigm“ schlägt Airhihenbuwa solche interdisziplinären Ansätze vor, die Erkenntnisse aus den Bereichen Public Health, Soziologie und anderen Disziplinen integrieren, um die verschiedenen Aspekte der Gesundheit besser zu verstehen. Eine mögliche Lösung besteht darin, das Curriculum des Medizinstudiums zu überarbeiten, um alltägliche rassistische Praktiken zu erkennen, die eigene Praxis zu reflektieren und die Bedeutung einer machtkritischen, transdisziplinären Kommunikation stärker zu betonen. Diese Übungen könnten sowohl individuell als auch im Rahmen von Gruppendiskussionen durchgeführt werden, um das Bewusstsein für rassistische Vorurteile und Stereotypen zu schärfen, die zu ungleicher Behandlung führen können. Das Einbeziehen dieser Themen muss kein zusätzliches Modul sein, sondern kann in die existierenden Fächer selbst verankert werden, um eine kontinuierliche Reflexion zu gewährleisten. Denn was durch ein verstecktes Curriculum verlernt werden kann, kann genauso durch ein aktiv gezieltes Curriculum bewusst trainiert und gestärkt werden.
Rassismuskritischer Handlungsbedarf
Im Gesundheitswesen ist ein Paradigmenwechsel notwendig: Rassismus und seine Auswirkungen müssen auch in den Institutionen thematisiert werden. Rassismuskritisch zu sein bedeutet, einen kritischen Blick auf die sozialen Strukturen, Denkmuster und Praktiken zu werfen, die Rassismus fördern oder aufrechterhalten. Es beinhaltet die Reflexion über die Ursachen und Auswirkungen von Rassismus sowie die aktive Auseinandersetzung damit, um Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu bekämpfen.
Krankenhäuser und Gesundheitszentren sind es gewohnt, Ziele zu erreichen, die von Behörden und Zahlungsträgern definiert werden; die Erfüllung patient:innenzentrierter Ziele sollte ebenso wichtig sein. Umso klarer die Ziele auf konkreten Maßnahmen und Veränderungen beruhen und umso mehr sie aktiv Communitys einbinden, umso besser. Diese Arbeiten sollten angemessen vergütet werden.
Ein Paradigmenwechsel erfordert, dass Teams in Gesundheitsorganisationen kritische Fragen gestellt werden. Sind sie in der Praxis rassismuskritisch? Falls nicht, wie können sie das ändern? Werden Entscheidungsprozesse, Ressourcenallokation und andere organisatorische Aktivitäten auf ihre Gerechtigkeit überprüft? Organisationen, die nicht in der Lage sind, eine diverse Belegschaft zu rekrutieren, zu halten oder zu unterstützen, sollten die offensichtlichen und subtilen Faktoren innerhalb ihrer Unternehmenskultur identifizieren, die zu diesem Misserfolg beitragen. Die Bereitstellung vertraulicher Feedbackmechanismen könnte dazu beitragen, Mitarbeiter:innen zu ermutigen, Probleme anzusprechen, über die sie sich sonst vielleicht nicht frei äußern würden. Es ist entscheidend, dass Organisationen Fehler und Kritik als natürlichen Teil des Veränderungsprozesses akzeptieren und nutzen, um Defizite in ihren bestehenden anti-rassistischen Bemühungen zu erkennen und zu verbessern.In einem hierarchiereichen Umfeld ist es von entscheidender Bedeutung, dass alle Mitglieder des medizinischen Teams ermutigt werden, offen über Probleme zu sprechen. Die Etablierung einer Fehlerkultur in der Medizin erfordert Kritik als produktive Denkweise zu kultivieren, um bewährte Verfahren kontinuierlich zu hinterfragen. Es muss nicht immer so bleiben, weil es immer so war.
Seit etwa drei Jahren lehre ich Medizinstudierenden all diese Themen. Kürzlich habe ich Erstsemestrige gefragt, was sie aus meiner Vorlesung mitnehmen würden: Einer von ihnen sagte „Hoffnung“. Genau das ist es, was wir brauchen – Hoffnung auf eine medizinische Ausbildung und ein Gesundheitswesen, die auf kritischer Reflexion, Gerechtigkeit und Solidarität basieren.
Fußnoten:
(1) Rassistisch markierte/rassifizierte Personen: Diese Formulierung betont, dass Rassismus eine soziale Konstruktion ist, die von der Gesellschaft auf Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe projiziert wird, und hebt die damit verbundenen Ungleichheiten hervor. Der Ausdruck „rassistisch markierte oder rassifizierte Person“ unterstreicht die Trennung zwischen der individuellen Identität und den externen Zuschreibungen aufgrund von rassistischen Vorurteilen und Stereotypen.
(2) Der Begriff Prävalenz drückt aus, wie weit verbreitet oder häufig etwas in einer bestimmten Gruppe oder Population ist. Er bezieht sich darauf, wie viele Personen innerhalb einer definierten Gruppe von einer bestimmten Krankheit, einem bestimmten Zustand oder einem bestimmten Merkmal betroffen sind.
Shreyasi Bhattacharya ist Ärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie setzt sich für Rassismuskritik in der medizinischen Ausbildung ein und hält Vorträge, Seminare und Fortbildungen als Referentin zum Thema Rassismuskritische Medizin. 2021 hat sie einen TEDx Talk zum Thema Rassismus in der Medizin gehalten. Ihr Ziel ist es, durch Bildung und Netzwerke Diversitätssensibilität in den universitären Strukturen und in der Gesundheitsversorgung zu erreichen.