Halbwahrheiten

Meldungen über schwere Geburtsschäden haben eine Diskussion um die Verwendung des Medikaments Cytotec ausgelöst. Wie gefährlich sind die Tabletten? Von Bettina Enzenhofer

Wehenschreiber mit einem Papierstreifen, auf dem Kurven zu sehen sind.
Foto: Parentingupstream/Pixabay

Schwere Geburtsschäden und Todesfälle, verletzte Aufklärungspflichten und Dosierungsprobleme – ein Artikel vom Bayerischen Rundfunk und der „Süddeutschen Zeitung“ titelte im Februar, dass Ärzt*innen mit gefährlichen, nicht dafür zugelassenen Tabletten Geburten einleiten, und stieß damit eine Debatte über das Medikament Cytotec an. Ein Aufschrei folgte auch in den Sozialen Medien, viele erinnerten sich an die eigenen Geburtserlebnisse, an Wehenstürme, ungeduldige Ärzt*innen und Aufklärungsbögen, die zwar unterschrieben, aber nicht verstanden wurden. Pro Familia und Fachgesellschaften reagierten mit Stellungnahmen: Cytotec an sich sei nicht das Problem, Schwangere sollten nicht mit Halbwahrheiten verunsichert werden.

Cytotec wurde ursprünglich als Magenschutzmittel zugelassen. Das Medikament beinhaltet den Wirkstoff Misoprostol, der als Nebenwirkung Kontraktionen der Gebärmutter auslöst. Ärzt*innen können die Tablette im sogenannten Off-Label-Use für Geburtseinleitungen sowie in hoher Dosierung bei Abtreibungen einsetzen. Das bedeutet, dass ein Medikament außerhalb seiner Zulassung verwendet wird – das ist in der Geburtshilfe nicht ungewöhnlich. Bereits 2014 urteilte das renommierte Netzwerk Cochrane, dass oral gegebenes Misoprostol zu weniger Kaiserschnitten führt als vaginal verabreichte Medikamente. Auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) bezeichnet Misoprostol als „effektivstes Medikament zur Geburtseinleitung“, die WHO sieht Misoprostol wegen der guten Nutzen-Risiko-Bilanz als unverzichtbares Medikament. In Frankreich und den skandinavischen Ländern ist der Wirkstoff durchaus für Geburtseinleitungen zugelassen.

Allerdings darf er nicht allen gegeben werden: Ein vorangegangener Kaiserschnitt oder die Entfernung von Myomen sind z. B. Kontraindikationen. Hatte eine schwangere Person bereits solche Operationen, so besteht das Risiko eines Risses der Gebärmutter. Ebenso wenig darf zu Misoprostol gegriffen werden, wenn bereits Wehen eingesetzt haben, ansonsten könnte es tatsächlich zu einer Überstimulation der Gebärmutter und sogenannten Wehenstürmen kommen. Doch auch bei denjenigen, die Misoprostol bekommen dürfen, kann die Dosis zu hoch ausfallen – oft wird die von WHO und DGGG empfohlene Dosierung nicht eingehalten, auch die Intervalle zwischen den Einzeldosen und die Überwachung der Schwangeren während einer Einleitung mit Cytotec wird in Kliniken nicht einheitlich gemacht. Eine Leitlinie wird derzeit überarbeitet.

Ob und wie eine Geburt eingeleitet werden soll, ist aber ohnehin keine triviale Frage und trifft zusätzlich auf ein seit Jahren bekanntes Problem der Geburtshilfe: Es fehlt an Personal, Zeit und Geld. „Die Bedürfnisse schwangerer Frauen nach Beratung und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung zur Geburtseinleitung werden aktuell nicht erfüllt“, resümierte die Gesundheitswissenschaftlerin Christiane Schwarz 2015 in einer Umfrage unter Patient*innen nach Misoprostoleinleitung.

„Ich verteufle medizinische Eingriffe in den Geburtsverlauf nicht, sie können Leben retten und auch Leid und Qual ersparen“, sagt Anita*, die eine Geburtseinleitung mit Cytotec erlebt hat. „Aber ich finde es bezeichnend, wie viele Frauen von traumatischen Geburten nach Einleitung durch Cytotec sprechen. Ich glaube nicht, dass es allein am Mittel liegt, sondern dass bei Interventionen jeglicher Art die Beratung und Begleitung zu kurz kommt.“ Denn gerade beim Off-Label-Use braucht es umfassende Aufklärung seitens der Ärzt*innen und die Zustimmung der Patient*innen. Anita hat im Geburtsvorbereitungskurs erstmals von Cytotec gehört. Ihre Hebamme erklärte zwar den Nutzen, ging auf mögliche Risiken aber kaum ein. Die Geburt von Anitas Kind war letztlich eine mit Cytotec gestartete Interventionskaskade, die gut ausgegangen ist. „Das Problem ist, dass Kliniken zu wenig Zeit und Personal für gute, ausgeruhte Geburten haben. Beratung und Transparenz bleiben auf der Strecke, weil das Personal nicht hinterherkommt und überarbeitet ist.“ Auch Kerstin* hat Erfahrung mit Cytotec. Ihr viertes Kind wurde in einer anderen Klinik als die vorigen entbunden, erstmals sollte mit Cytotec eingeleitet werden. Sie bekam eine Broschüre und konnte Fragen stellen. „Die Aufklärung war wahrscheinlich ausreichend, hat mir aber kein besonders sicheres Gefühl gegeben. Ich hatte das Gefühl, ich unterschreibe da jetzt etwas, das ich eigentlich nicht richtig überblicken kann.“ Sie wollte lieber das Gel zur Einleitung verwenden, das bei ihren vorigen Geburten gut funktioniert hatte, „doch ich wurde überstimmt. Ich wollte auch keine unangenehme Patientin sein. Ich weiß gar nicht, was meine Rechte gewesen wären?“ Birgit* ist Gynäkologin. Die Aufklärung findet in ihrer Klinik mittels Fragebogen statt, „aber natürlich ist die Frage, was die Patientin davon wirklich versteht“. Seit der Cytotec-Debatte hatte sie eine Patientin, die extrem verunsichert war. „Vor Cytotec muss sich zwar niemand fürchten, aber bei dieser Patientin haben wir dann ein anderes Medikament verwendet. Natürlich haben Schwangere das Recht, Nein zu sagen.“

Im März meldete sich das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit einem „Rote-Hand-Brief“ zu Cytotec, demgemäß „zahlreiche, neue Berichte über schwere Nebenwirkungen“ vorliegen. Auch sei die Tablette teilweise nicht oral (sondern z. B. rektal) verabreicht worden, die Dosierung schwierig, da die Tablette geteilt werden muss. Das BfArM muss diese Informationen veröffentlichen, wenn es Berichte über Schäden gibt, ein kausaler Zusammenhang mit dem Medikament muss hierfür nicht belegt sein. Die Debatte um Cytotec geht also vielleicht in eine zweite Runde. Hoffentlich wird diesmal nicht der Off-Label-Use skandalisiert, sondern die unzureichende Betreuung Gebärender.

* Name anonymisiert

Dieser Text erschien zuerst in Missy Magazine 3/2020. Das Missy Magazine freut sich über Abos.

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