Krankheit, neu aufgelegt
In den USA kennt die Psychiatrie ab jetzt nicht mehr die „Geschlechtsidentitätsstörung“, stattdessen wird nun von „Gender Dysphorie“ gesprochen. Doch nicht nur diese Diagnose ist kritikwürdig. Von Bettina Enzenhofer
Etwa alle zehn Jahre wird die Frage, was eine „psychische Erkrankung“ ist, neu beantwortet und für die nächsten Jahre festgeschrieben: in den Diagnosemanualen der Psychiatrie. Dass die Beantwortung dieser Frage letztlich auf Aushandlungen der am Entstehungsprozess beteiIigten Personen beruht – und dass das, was heute als „psychisch krank“ eingestuft wird, morgen als „gesund“ gelten bzw. anders als bisher definiert werden kann, bestätigt sich dabei immer wieder. 1980 war beispielsweise in der dritten Version des diagnostischen Manuals (DSM) der American Psychiatrie Association (APA) Homosexualität als Diagnose einer psychischen Erkrankung nicht mehr zu finden. „Dieser Entschluss war der größte Therapieerfolg, der jemals in der Geschichte erzielt wurde. Mit einem Federstrich wurden Millionen von Menschen von ihrem angeblichen Leiden befreit. – Man muss sich (…) vergegenwärtigen, dass Diagnosen Realitäten konstruieren“(1), äußerte sich dazu der Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut Paul Watzlawick.
Die Erfindung einer Krankheit
Auch im Zusammenhang mit Trans* zeigen sich über die Jahre Veränderungen. 1979 nahm die Weltgesundheitsorganisation (WHO) „Transsexualität“ in ihr Klassifikationsmanual, den ICD-9, als psychische Erkrankung auf. Bis heute werden im ICD-10 u.a. „Transsexualismus“ und „Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen“ unter dem Überbegriff „Störungen der Geschlechtsidentität“ als „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ klassifiziert.
Im DSM wurde „Transvestitismus“ schon in den ersten beiden Fassungen als „psychische Störung“ eingestuft, mit Erscheinen des DSM-III (1980) kamen u.a. „Transvestitischer Fetischismus“ und „Transsexualität“ hinzu. Im DSM-IV wurde die Diagnose „Transsexualismus“ schließlich durch „Geschlechtsidentitätsstörung“ ersetzt, diese war bis zuletzt gültig.
Pathologisierung, Version 5
Im DSM-5 wird nun die „Geschlechtsidentitätsstörung“ von der „Gender Dysphorie“ abgelöst. Zwar lag das neue DSM zu Redaktionsschluss noch nicht vor, zuletzt kommunizierte die APA aber folgende Änderungen: Eine Gender Dysphorie wird künftig definiert als „Inkongruenz zwischen dem erlebten/geäußerten und dem zugewiesenen Geschlecht seit mindestens sechs Monaten“ (2), die einhergeht mit „klinisch signifikantem Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen, oder anderen wichtigen Funktionsbereichen, oder mit einem signifikant erhöhten Leidensrisiko“. In Ansätzen zeigt sich nun auch eine offenere Definition von Gender: In den einzelnen Diagnosekriterien wird nicht nur vom „anderen“ Gender gesprochen (z.B. „ein starker Wunsch, als das andere Gender behandelt zu werden“), sondern es ist auch jeweils der Zusatz „oder ein alternatives Gender, das sich von dem zugewiesenen unterscheidet“ angeführt.
Intersexualität ist für die Diagnose ab sofort kein Ausschlusskriterium mehr, d.h. anders als bisher gilt die Diagnose nun auch für intersexuelle Menschen. Angesichts dieser Änderungen jubelten nicht nur Feminist_innen kurzzeitig – ist doch ab nun die Geschlechtsidentität begrifflich nicht mehr mit einer „Störung“ versehen. Doch der Jubel war verfrüht, wie mittlerweile einige Trans*-Aktivistinnen klarmachten. Eine von ihnen ist Kelley Winters, die über den jahrelangen Prozess der Neuerungen gebloggt hat. Einen „signifikanten Schritt vorwärts“ nennt zwar auch sie den neuen Begriff, „dies stellt eine historische Veränderung dar – weg von Gender-Identitäten, die sich vom zugewiesenen Geburtsgeschlecht unterscheiden, hin zum Leiden am aktuellen biologischen Geschlecht oder der zugewiesenen Gender-Rolle als Fokus des zu behandelnden Problems“. Diese begriffliche Erneuerung und nicht mehr per-se-Pathologisierung solle aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die diagnostischen Kriterien die „Gender Dysphorie“ noch immer im Bereich des Psychopathologischen ansiedeln. Denn die soziale und medizinische Transition selbst wird nach wie vor „als symptomatisch für eine psychische Krankheit“ angesehen und ist, so Winters, in der Diagnostik vor allem bei Kindern „besonders beunruhigend“.
„Echte“ Transsexuelle
In Europa wird das vor allem in den USA eingesetzte DSM-5 bis dato von Trans*-0rganisationen noch nicht diskutiert, Stimmen zum hier gebräuchlicheren ICD-10 und anderen verwendeten Leitlinien und Behandlungsempfehlungen gibt es aber. „In der Trans*-Community besteht Konsens darüber, dass Trans*-Personen keinesfalls geistesgestört oder psychisch krank sind. Trans*-Personen, die ihr eigenes Geschlecht leben können, die sozial wie juristisch anerkannt sind und die auf Wunsch auch Zugang zu geschlechtsanpassender medizinischer Behandlung haben, leiden nicht stärker unter psychischen Belastungen als die Durchschnittsbevölkerung“, sagt Jo Schedlbauer von TransX.
Demgegenüber fällt pro Pathologisierung häufig ein Argument: Erst durch eine Diagnose könnten die Kosten für Eingriffe wie Operationen oder Hormone von den Krankenkassen übernommen werden. Dass diese Argumentation aber zu kurz greift, erklären Arn Sauer und Jonas Hamm von TranslnterQueer: „Transsexualität ist keine psychische Krankheit und nicht alle Trans*-Menschen sind Transsexuelle gemäß der restriktiven Definition des ICD-10. Es haben jedoch alle Trans*Menschen das Recht, ihren Körper, Namen und Personenstand ihrer Identität anzupassen, unabhängig davon, ob sie sogenannte ,echte‘ Transsexuelle im klinischen Sinne des ICD-10 sind. Im Augenblick erreicht deswegen eine trans*-spezifische Gesundheitsversorgung nicht alle Trans*-Menschen in Deutschland, die sie benötigen würden.“
Depathologisierungsbewegung
Trans*-Aktivist_innen arbeiten schon lange an einer Konzeption von Trans*, die nicht pathologisierend ist und trotzdem eine adäquate, individuell gewünschte Behandlung sicherstellt. So war die Hauptforderung der weltweiten „Stop Trans Pathologization 2012“-Kampagne (stp2012) die Streichung der „Geschlechtsidentitätsstörungen“ aus den internationalen diagnostischen Manualen. Stp2012-Gruppen aus Spanien entwarfen beispielsweise einen „Best Practices Guide to Trans Health Care in the National Health System“. Nicht nur solle die (psycho)pathologisierende Diagnose abgeschafft werden, vor allem sollten auch Trans*-Personen als aktive Beteiligte mit Autonomie über ihren Körper gesehen werden.
Auf Depathologisierung setzt auch die World Professional Association for Transgender Health (WPATH), zuletzt sprach sie sich 2010 in einem eigenen Statement explizit dafür aus. Seit 1979 gibt die Organisation die „Standards of Gare (SoC) for the Health of Transsexual, Transgender, and Gender nonconforming People“ heraus, im Moment liegt die siebte Fassung vor. Die SoC richten sich vor allem an Personen in Gesundheitsberufen, sie bieten unter anderem vergleichsweise flexible Behandlungsempfehlungen zu Hormontherapie und genitalanpassenden Operationen – etwas, das die reinen Diagnosemanuale DSM und ICD nicht beinhalten. Und die SoC machen dabei klar, dass derartige medizinische Eingriffe von manchen Trans*-Personen gewünscht werden, von anderen aber nicht.
Du sollst dich nicht gegengeschlechtlich kleiden
Trans*-Aktivist_innen kritisieren gegenwärtig aber nicht nur die Definitionen zur Transsexualität, sondern vor allem auch die Pathologisierung des Tragens von „gegengeschlechtlicher“ Kleidung. Im DSM-5 ist die Änderung von „Transvestic Fetishism“ hin zu „Transvestic Disorder“ für Kelley Winters eine noch schlimmere Erneuerung als die der Gender Dysphorie, sie müsse deshalb ganz aus dem DSM gestrichen werden. Denn mit dieser Diagnose würden, so Winters, noch mehr Gender-diverse Menschen stigmatisiert. Auch die Trans*-Aktivistin Julia Serano übt Kritik daran, dass nun jede Person, die während des Tragens „gegengeschlechtlicher“ Kleidung sexuell aktiv ist, die Diagnose „Transvestic Disorder“ bekommen könnte.
Hierzulande schließt sich TransX-Aktivist_in Jo Schedlbauer dieser Kritik in Bezug auf den ICD-10 und die Diagnosen „Transvestitismus“ und „fetischistischer Transvestitismus“ an: „Die beiden Diagnosen transvestitischer Persönlichkeitsstörungen sind völlig indiskutabel und ihre ersatzlose Streichung ist in der Trans*community unbestritten. Das bloße Tragen von Kleidung kann nicht pathologisch sein, egal ob es von Erregung begleitet ist oder nicht.“
Die hohe Relevanz von als zum „richtigen“ Geschlecht gehörender Kleidung und Verhalten fällt im DSM-5 übrigens auch an anderer Stelle auf: Bei der nun wieder von den Erwachsenen getrennten „Gender Dysphorie bei Kindern“. Unter den einzelnen diagnostischen Kriterien finden sich hier z.B. das Cross-Dressing von Buben und Mädchen, „gegengeschlechtliche“ Rollen beim Spielverhalten oder eine Präferenz von Spielkamerad_innen des „anderen“ Geschlechts. Auch im ICD-10 wird die „Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters“ u.a. durch eine „andauernde Beschäftigung mit der Kleidung oder den Aktivitäten des anderen Geschlechtes“ diagnostiziert. Derzeit wird der ICD-10 überarbeitet, die elfte Fassung soll 2015 vorliegen und es bleibt abzuwarten, ob die WHO zukünftig auf Entpathologisierung setzen wird. Arn Sauer und Jonas Hamm schätzen es aber als „wahrscheinlich“ ein, dass die Transsexualitäts-Diagnose im ICD zumindest an anderer Stelle – und somit nicht mehr als psychische, sondern als körperliche „Krankheit“ – behandelt werden wird. Das wäre vielleicht zumindest ein Anfang in Sachen Depsychopathologisierung. Sauer hofft aber auf noch viel mehr: „Am liebsten wäre mir gar keine Diagnose, sondern reine Selbstbestimmung. Das geht aber nicht, solange deutsche Krankenkassen – ohne geänderte (Sozial-)Gesetze wie in Argentinien – dafür aufkommen sollen. An irgendwas muss man dann zwangsläufig ,leiden‘.“
Fußnoten:
(1) in Bernhard Pörksen: Abschied vom Absoluten. Gespräche zum Konstruktivismus. Carl-Auer-Systeme Verlag 2001: 227
(2) Zitate von APA, Kelley Winters, Julia Serano sind Übersetzungen der Autorin aus dem Englischen
Dieser Text erschien zuerst in an.schläge Mai 2013.