„Hier ist es ja wirklich stockdunkel“

Die schwere chronische Erkrankung ME/CFS trifft nicht nur Long-Covid-Patient*innen. Bettina Enzenhofer über geschlechtsspezifische Faktoren, fehlende Forschung und warum ärztliche Ratschläge wie „Probieren Sie es mal mit Sport“ katastrophale Folgen haben können.

Eine Person mit Augenbinde und Kopfhörern liegt in einem Bett in einem dunklen Zimmer.
Person mit ME/CFS, Foto zur Verfügung gestellt von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS © Lea Aring

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Artikel 
über die Krankheit ME/CFS.

ME/CFS ist 
eine schwere lange Krankheit.

Du kannst ME/CFS nur bekommen
wenn du vorher ein Virus hattest.

Zum Beispiel:
Sarah hatte Corona.
Jetzt hat Sarah ME/CFS.

Das heißt nicht,
dass alle Menschen mit Corona ME/CFS bekommen.

In Österreich haben 25.000 Menschen ME/CFS.

ME/CFS ist eine Abkürzung für ein schwieriges Wort.
Das Wort bedeutet:
Das Gehirn ist entzündet.
Die Muskeln sind schwach.
Mit ME/CFS bist du sehr erschöpft.
Zum Beispiel:
Zähneputzen ist zu anstrengend.
Viele Menschen haben sehr starke Schmerzen.

Wenn du viel machst,
wird die Krankheit schlimmer.

Viele Ärzt*innen wissen zu wenig über ME/CFS.

Oft sagen Ärzt*innen:
du hast eine Depression.
Oder:
du bist gesund.

Niemand kann ME/CFS heilen.

Menschen mit ME/CFS sagen:
nehmt uns ernst.
Ärzt*innen müssen mehr über ME/CFS lernen.

In Österreich gibt es die ME/CFS Hilfe.
Sie hilft dir,
wenn du ME/CFS hast.

Diese Kurz-Fassung haben geschrieben: Bettina Enzenhofer, Sara Ablinger, Brigitte Theißl

Wenn du zum Text eine Frage hast:
schreib an be(at)ourbodies.at

Wenn Sarah duschen will, dann geht sie nicht einfach duschen. Sie plant es für einen Tag ein, „an dem sonst nichts ist“, erzählt sie im an.schläge-Interview. Manchmal strengt das Duschen ihren Körper so an, dass ihr Puls auf 150 steigt.

Sarah hat Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS), eine schwere, chronische Multisystemerkrankung, die laut CFS-Hilfe mindestens 25.000 Personen in Österreich betrifft. Diese Zahl wird sich durch die Corona-Pandemie erhöhen: zehn Prozent bis zwanzig Prozent der Covid-Erkrankten könnte Long Covid bekommen – ein Teil von ihnen ME/CFS. So war es auch bei Sarah: „Nach meiner Corona-Erkrankung wurde ich nie mehr richtig fit, hatte Muskelschmerzen am ganzen Körper. Ich bin zu vielen Ärzt*innen gegangen, aber alle sagten, es sei alles okay.“ Die 37-jährige, die vor ihrer Erkrankung sehr aktiv und sportlich war, probierte deshalb wieder mehr aus, und testete, was körperlich möglich war. „Das war ein fataler Fehler und hat zu meinem größten Crash geführt. Ich bin mit Fieber aufgewacht, konnte nicht mehr gehen, bin ständig ohnmächtig geworden. Licht, Lautstärke, reden – alles war sehr anstrengend. Von da an lag ich drei Monate nur im Bett und habe nichts selber geschafft, außer zu essen und mit Hilfe aufs Klo zu gehen.“

Wenn Zähneputzen zu viel ist

ME/CFS kann sich auf Immun- oder Nervensystem sowie den Energiestoffwechsel auswirken und individuell unterschiedlich zeigen. Zu den Diagnosekriterien zählen eine länger als sechs Monate andauernde, schwere Erschöpfung (in Fachkreisen als Fatigue bezeichnet), Schlafstörungen, Schmerzen oder neurologische Einschränkungen. Es können auch grippeähnliche Symptome, Magen-Darm-Probleme, Muskelschmerzen oder eine orthostatische Intoleranz auftreten: Der Körper kann in diesem Fall nicht problemlos über längere Zeit aufrecht gehalten werden. Kernsymptom der Erkrankung ist die Post-Exertional Malaise (PEM): nach körperlicher oder kognitiver Anstrengung verschlechtert sich der Zustand. PEM kann selbst nach einfachen Alltagsaktivitäten auftreten – schon Einkaufen oder Zähneputzen ist dann zu viel. Eine der wichtigsten Regeln für die Betroffenen lautet deshalb: Pacing, mit den eigenen Energiereserven vorsichtig umgehen. „Es ist schwierig, einzuschätzen, wie viel Anstrengung zu viel ist – man spürt es nicht sofort“, sagt Sarah, die aus diesem Grund eine Pulsuhr trägt. „Über 110 soll ich nicht kommen. Manchmal sitze ich einfach nur da und bin über 130.“

Forschungsdefizit

Sechzig Prozent der meist jungen ME/CFS-Patient*innen sind arbeitsunfähig, 25 Prozent sind pflegebedürftig, viele können ihre Wohnung oder sogar ihr Bett nicht mehr verlassen. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation ME/CFS bereits 1969 als neurologische Krankheit klassifiziert hat, ist sie unter Ärzt*innen immer noch weitgehend unbekannt sowie untererforscht. „ME/CFS ist ein hochkomplexes Krankheitsbild. Es gibt keinen Biomarker, der bestätigt, dass es sich um ME/CFS handelt. Das macht es nicht einfach, dazu zu forschen“, erklärt Eva Untersmayr-Elsenhuber, „zusätzlich wird das Krankheitsbild ME/CFS in Österreich derzeit in den medizinischen Curricula nicht im Detail behandelt“. Die Immunologin leitet aktuell eine ME/CFS-Studie, in der die Verschiedenartigkeit der ME/CFS-Erkrankten im Mittelpunkt steht – mit dem Ziel, in Zukunft Gruppen mit ähnlichen Verläufen schnell erfassen und daraufhin bessere Behandlungen anbieten zu können. 

Zwei Drittel der ME/CFS-Erkrankten sind Frauen. „Woran das liegt, ist im Detail noch unklar. Eine Hypothese ist das hormonell bedingte, unterschiedliche Immunsystem von Frauen und Männern. Frauen haben oft ein stärkeres Immunsystem“, sagt Untersmayr-Elsenhuber. Das könne sich auch nachteilig auswirken – so hätten Frauen etwa öfter Autoimmunerkrankungen. „Zu trans, inter oder nicht-binären Personen sind mir keine Studien zum Thema ME/CFS bekannt. Allerdings ist das eine relevante Frage – gerade, wenn diesen Personen Östrogene verabreicht werden.“

Grundsätzlich kann ME/CFS nach Infekten auftreten, so die Immunologin, „es dürfte allerdings virale Erkrankungen geben, bei denen ME/CFS häufiger als Folge auftreten kann, wie zum Beispiel nach einer EBV-Infektion, dem sogenannten Pfeifferschen Drüsenfieber, nach Influenza-Infektionen oder eben jetzt nach einer Corona-Infektion.“ Bei vielen ME/CFS Patient*innen jedoch bleibe die Ursache oder der Auslöser unklar.

Keine Depression

Auch die 19-jährige Mila hat ME/CFS. Nach einem viralen Infekt habe sie sich nicht mehr erholt, erzählt ihre Mutter Sabine. „Die Ärzt*innen meinten, das sei eine Depression, obwohl die psychologische Diagnostik bestätigt hat, dass es eben keine Depression ist. Eine körperliche Ursache wurde lang nicht gefunden.“ Erst ein Artikel über ME/CFS gab Sabine den entscheidenden Hinweis. Mit dem neuen Wissen konnte Mila einen der wenigen ME/CFS-Spezialist*innen in Österreich aufsuchen, der bei ihr ME/CFS diagnostizierte. „Diese Psychologisierung von ME/CFS, die überwiegend Frauen betrifft, ist verheerend“, sagt Sabine.

Damals erlaubte es Milas Zustand noch, dass sie „ein paar Schritte auf der Terrasse gehen“ konnte. Doch nach einem weiteren Infekt sei es zu einer deutlichen Verschlechterung gekommen: „Seither ist sie komplett bettlägerig und braucht absolute Dunkelheit, die Jalousien sind unten, das Fenster ist verklebt, sie trägt eine Augenbinde. Was das bedeutet, kann man anderen gar nicht richtig vermitteln, solange sie es nicht selbst gesehen haben.“ Betritt man Milas Raum, so müssen sich die Augen erst in der Dunkelheit adaptieren. „Hier ist es ja wirklich stockdunkel“, sei eine Gutachterin erstaunt gewesen.

ME/CFS zählt zu den belastendsten chronischen Erkrankungen, die Lebensqualität der Betroffenen ist im Durchschnitt schlechter als bei anderen chronischer Erkrankungen. Bei einer Erhebung der ME/CFS-Hilfe gaben 65 Prozent der Befragten an, seit Beginn der Erkrankung einmal oder öfter Suizidgedanken gehabt zu haben. Dass ME/CFS etwas komplett anderes ist, als depressiv oder „auch oft müde zu sein“, wie die Betroffenen häufig von Ärzt*innen oder Bekannten hören – ist nach wie vor schwierig zu vermitteln. Zwei aktuelle Petitionen aus Deutschland und Österreich setzen sich für mehr Forschungsförderung, soziale Absicherung, den Aufbau medizinischer Versorgungsstrukturen und Aufklärung ein. Nicht zuletzt muss das Krankheitsbild unter Ärzt*innen bekannter werden: Im Schnitt dauert es fünf bis acht Jahre, bis eine korrekte Diagnose gestellt wird – Jahre, in denen die Erkrankten durch Aussagen wie „Probieren Sie es mal mit Sport“ oder durch „Therapien“ wie eine aktivierende Reha potenziell geschädigt werden. Denn zu viel Belastung verschlechtert die Krankheit.

Isoliert und abhängig

Aufgrund ihrer Einschränkungen ist es für viele ME/CFS-Erkrankten schwer, am sozialen Leben teilzuhaben. „Mila ist sozial total isoliert“, erzählt Sabine. Jedes Geräusch sei zu viel – das Schnurren der Katze, Duschen, die Anwesenheit von Menschen im Raum. „Mittlerweile hat sie auch ihre Sprache komplett verloren. Vorher war das allernötigste möglich – zwei, drei Wörter am Tag. Jetzt gar nichts mehr. Als es ihr noch besser ging, hat sie eine Zeichensprache entwickelt. An besonders guten Tagen kann sie mit dem Finger ein Wort auf die Matratze schreiben.“ Weil Milas Symptome dermaßen schwer sind, hat sie zwar vergleichsweise rasch eine Pflegestufe und Assistenz zugesprochen bekommen. Doch bei ME/CFS kann man nur die Symptome behandeln, nicht die Krankheit selbst. Und eine spezielle medizinische ME/CFS-Einrichtung gibt es in Österreich nicht. „Man ist mit dieser Krankheit sehr allein gelassen“, sagt Sabine. Aktuell besteht Grund zur Hoffnung. Da sich ME/CFS- und Long-Covid-Symptome teilweise überschneiden, könnte Forschung zu Long Covid auch für ME/CFS-Patient*innen neue Erkenntnisse bringen. Sarah betrachtet es trotz aller Einschränkungen als Glück, dass bei ihr ME/CFS im Zusammenhang mit Long Covid aufgetreten ist: „Mein Weg war nicht leicht, aber er war leichter als jener von Menschen, die nur ME/CFS haben – ich kenne viele, die bei der Begutachtung schlimme Erfahrungen gemacht haben, vor Gericht streiten mussten.“ Sie sei ernster als andere genommen worden, der Weg zur Diagnose habe bei ihr „nur ein Jahr“ gedauert. Auch die Bescheinigung einer neunzigprozentigen Behinderung verlief unproblematisch. „Doch mein Leben hat sich sehr verändert. Ich bin von einer sehr selbstständigen Frau zu einer sehr abhängigen geworden.“

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge II/2022.

Inhalt in Einfacher Sprache

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über die Krankheit
ME/CFS.
ME/CFS ist
eine schwere lange Krankheit.
Du kannst ME/CFS nur bekommen
wenn du vorher ein Virus hattest.
Zum Beispiel:
Sarah hatte Corona.
Jetzt hat Sarah ME/CFS.
Das heißt nicht,
dass alle Menschen mit Corona ME/CFS bekommen.
In Österreich haben 25.000 Menschen ME/CFS.
ME/CFS ist eine Abkürzung für ein schwieriges Wort.
Das Wort bedeutet:
Das Gehirn ist entzündet.
Die Muskeln sind schwach.
Mit ME/CFS bist du sehr erschöpft.
Zum Beispiel:
Zähneputzen ist zu anstrengend.
Viele Menschen haben sehr starke Schmerzen.
Wenn du viel machst,
wird die Krankheit schlimmer.
Viele Ärzt*innen wissen zu wenig über ME/CFS.
Oft sagen Ärzt*innen:
du hast eine Depression.
Oder:
du bist gesund.
Niemand kann ME/CFS heilen.
Menschen mit ME/CFS sagen:
nehmt uns ernst.
Ärzt*innen müssen mehr über ME/CFS lernen.
In Österreich gibt es die ME/CFS Hilfe.
Sie hilft dir,
wenn du ME/CFS hast.

Diese Kurz-Fassung haben geschrieben: Bettina Enzenhofer, Sara Ablinger, Brigitte Theißl.
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