In der Praxis
Psychische Erkrankungen bedeuten für die behandelnden Ärzt_innen auch eine enorme Verantwortung. Bettina Enzenhofer und Fiona Sara Schmidt befragten Karin Danielczyk, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in Wien.
Bettina Enzenhofer, Fiona Sara Schmidt: Wie definieren Sie den Begriff der „psychischen Krankheit“ in Ihrer alltäglichen Praxis als Neurologin/Psychiaterin?
Karin Danielczyk: Den Begriff der psychischen Erkrankung verwende ich, wenn für die Betroffenen ein Leidensdruck wahrnehmbar ist. Die Abweichung von der konstruierten Norm alleine kann eine Diagnose sein, die aber nicht „Krankheit“ im eigentlichen Sinn bedeuten muss. Der Zustand der Schwangerschaft stellt etwa ein bedeutendes Ereignis in unserem Leben dar, ohne Krankheit zu sein.
In der Psychiatrie sind die Grenzgebiete zwischen „normal“ und „Störung“, zwischen krank und gesund oft größer als in der somatischen Medizin, wo Abweichungen von der Norm manchmal bereits am äußeren Aspekt leicht erkennbar sind, wie z.B. bei einer Verletzung. Es wäre aber ein Trugschluss, aufgrund der mitunter schlechteren Erkennbarkeit einer psychischen Erkrankung zu glauben, es gäbe gar keine.
Wie steht es heute um die gesellschaftliche Akzeptanz psychischer Erkrankungen?
Bei einer Mehrheit lässt sie weiterhin zu wünschen übrig, das hat unter anderem ebenfalls mit der schwierigeren Wahrnehmbarkeit zu tun, aber auch mit falschen moralisierenden Deutungsversuchen. Es wird das Symptom des mangelnden Antriebs mit Faulheit verwechselt, Suchterkrankung mit Willensschwäche, Depression bei einem Mann, die sich häufig in Aggression manifestiert, mit testosteronbedingtem Machotum. Immerhin hat sich die öffentliche Meinung in den letzten Jahren in eine erfreuliche Richtung bewegt. So banal es klingen mag, aber das Outing von lokalen Berühmtheiten wie z.B. von einem Fernsehsprecher, der sich zu seinen Panikattacken bekennt, oder von einer Schauspielerin zu ihrer wiederkehrenden depressiven Störung, hilft, gegen diese Vorurteile anzukämpfen. Ich höre heute viel seltener: „Ich geh doch nicht zum Irrenarzt, ich bin ja nicht verrückt.“ Nach wie vor besonders heikel ist der Umgang mit psychischen Störungen in der Arbeitswelt. Wenn es zur Arbeitsunfähigkeit kommt, sind die PatientInnen immer noch eher geneigt, zur Sicherheit eine somatische Erkrankung vorzuschieben. Am ehesten wird der derzeit genau deshalb boomende Ausdruck „Burn-out“ akzeptiert.
Warum werden Frauen weit öfter Psychopharmaka verschrieben als Männern?
Ich glaube, dass es bei der Verordnung von Antipsychotika in der Indikation gegen Psychose (nicht als Sedativum/Beruhigungsmittel) keinen großen Geschlechtsunterschied gibt, sehr wohl aber bei Antidepressiva und Tranquilizern (eine eigene Klasse von Beruhigungsmitteln). Ein Grund ist, dass bei Frauen eine Depression leichter diagnostiziert wird als bei Männern, bei denen sich eine Depression anders äußern kann: Er kauft sich ein Motorrad und hat damit vielleicht sogar einen „Unfall“, er wird gewalttätig, er betrinkt sich. Er sieht das Problem weniger bei sich als bei den anderen und stellt das dem Arzt auch so dar, falls er überhaupt zu ihm geht. Frauen suchen die Ursachen ihres Leidens mehr bei sich selbst und präsentieren es dementsprechend in einer Weise, dass ein ungeschulter Hausarzt rasch auf die Idee kommen kann, diese klagende Frau hat eine Depression, obwohl die Ursache ihres Leidens vielleicht eine andere ist. Das bedeutet, dass bei Frauen Depressionen überdiagnostiziert und bei Männern unterdiagnostiziert werden. Insgesamt leiden trotzdem mehr Frauen als Männer an Depressionen.
Psychopharmaka besitzen bei mir einen wichtigen Stellenwert bei schweren psychischen Erkrankungen. Richtig eingesetzt, können diese Mittel viel bewirken, sogar Menschenleben retten. Durch die Medikamentenwirkung ist der Zugang zu dem so wichtigen Gespräch verbessert oder überhaupt erst ermöglicht. Denn jemand, der schwer depressiv oder psychotisch ist, ist für seine Umwelt nur sehr eingeschränkt erreichbar. Medikamente helfen auch, Krankenhausaufenthalte zu vermeiden oder zumindest zu verkürzen, sodass Betroffene viel rascher in ein selbstbestimmtes Leben zurückkehren können. Ich sehe also eher die positiven Effekte dieser Medikamente. Freilich kann damit auch Schaden angerichtet werden, wenn sie in unwissende Hände gelangen.
Wie positionieren Sie sich zu dem Diagnosemanual, mit dem Sie in Ihrer täglichen Praxis arbeiten müssen?
Zu meinen Aufgaben gehört es, die von den PatientInnen berichteten Beschwerden richtig einzuordnen. Eine Arbeit ohne Norm und Diagnose könnte für eine Ärztin und vor allem für ihre PatientInnen mitunter fatal ausgehen.
Die PatientInnen kommen zunächst oft zu mir, weil sie einfach wissen wollen, was sie an sich entdeckt haben, und sie beunruhigt oder stört, ob das ein Symptom einer Erkrankung ist oder nicht. Es kommt aber auch vor, dass PatientInnen und ihr Umfeld im Umgang mit einer ernstzunehmenden Erkrankung zur Bagatellisierung und Verdrängung neigen, was gerade bei psychischen Störungen aufgrund der schwereren Erkennbarkeit häufig vorkommen kann. Es herrscht dann die irrige Vorstellung, das geht schon, wenn ich nur will, wenn ich mich „zusammenreiße“. In Wirklichkeit geht das aber eben nicht, weil einen die Krankheit an sich daran hindert.
Bei der Diagnostik bestehen zwei Gefahren: Entweder wir Behandlerlnnen „hören gleich das Gras wachsen“, vermuten voreilig eine mitunter ernsthafte Pathologie hinter den präsentierten Symptomen, oder es passiert das Gegenteil, dass wir Symptome verharmlosen und nicht erkennen, dass doch etwas dahinter steht.
Welche Rolle spielt Geschlecht in den Diagnosemanualen?
In den heutigen Manuals wird es tunlichst vermieden, geschlechtsspezifisch zu unterscheiden. Im letzten ICD-10 (1992) wurde endlich die Homosexualität als Störung an sich herausgenommen. Zu einem Problem kann die Diagnose „Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen“ werden. Die Diagnose kommt dann zum Einsatz, wenn dieser Mangel sich störend auswirkt. Da stellt sich dann allerdings die Frage, auf wen, und wir sind wieder beim Thema. Dass es Frauen gibt, die lange Zeit bestens ohne Sexualität auskommen können, ohne dass ihnen etwas abgehen würde, ist für manche Männer und auch Ärzte nicht vorstellbar. Leider gibt es Frauen, die deren Sichtweise unhinterfragt übernehmen. Und die Pharmafirmen nehmen das Thema dankbar auf, denn dafür gibt es ja einen großen Bedarf. Das Problem ist nicht, dass es irgendwann ein Mittel dagegen geben könnte, das jede verwenden kann, wenn sie es wünscht, sondern das Problem ist der Druck von außen, der den Blick auf die eigenen Bedürfnisse verstellen kann. Dieser Druck wird durch mehr oder weniger subtiles Lobbying der Pharmaindustrie verstärkt, vor allem in Kreisen der Ärztinnen und Ärzte, die diese Produkte dann verschreiben sollen. Um nicht in diese Falle zu tappen, ist es immer wichtig, nicht den Blick auf die PatientInnen und ihre Bedürfnisse zu verlieren.
Wie stehen Sie zu den Positionen der Antipsychiatrie?
Die Antipsychiatrie-Bewegung hilft der Medizin, einen weiteren Blick zu bekommen. Sie macht behindernde Helfer- und Allmachtsallüren der behandelnden Personen sichtbar. In einem schießt sie aber über das Ziel hinaus, und das ist ein systemimmanentes Problem: Sie tut so, als könnte man auf die Psychiatrie einfach verzichten. Das ist aber nicht möglich, weil psychiatrische Leiden keine Chimären sind und behandelt werden können. Zwangsmaßnahmen werden zur Ruhigstellung zum Schutz der Patientlnnen vor sich selbst oder von anderen eingesetzt, eine armselige und letzte Möglichkeit, jemanden zu therapieren. Ich habe diese Situationen im Otto Wagner Spital sowohl für die Patientlnnen als auch für mich als sehr traumatisierend erlebt. Man kann leicht auf die Idee kommen: „Lasst sie doch, wenn sie nicht wollen.“ Aber wir BetreuerInnen müssen genauso die Verantwortung für Handlungen übernehmen, die in einem Zustand der verzerrten Wahrnehmung passieren können. Es handelt sich ja nicht um das Problem, dass jemand dann phantastische Bilder malt oder laut auf der Straße singt, wie das gerne in romantisierenden Filmen oder Büchern dargestellt wird. Meist sind diese PatientInnen in einem ebenso für sie auch selbst fürchterlichen Zustand, sie sind von ihrer Umgebung isoliert und haben Todesängste, z.B. durch einen Verfolgungswahn. Es wird oft eine unvorstellbare Energie mobilisiert, die die PatientInnen tagelang nicht zur Ruhe lassen kommen lässt. Der Schlafentzug hält die Psychose dann in einem Teufelskreis weiter wach.
In der Theorie klingt die Abschaffung der Psychiatrie oder zumindest der psychiatrischen Krankenhäuser wunderbar. In der Praxis ist es bei Negierung von psychiatrischer Krankheit aus ideellen oder gar finanziellen Gründen schon passiert, dass Kranke stattdessen im Gefängnis oder auf der Straße landeten, oder wenigstens von karitativen Vereinigungen – allerdings ohne professionelle Hilfe – unterstützt werden.
Vielleicht wird die Gesellschaft irgendwann so weit sein, dass eine Integration von Menschen mit psychischen Erkrankungen viel besser gelingt als heute. Doch ich glaube nicht, dass dadurch bedingt die Krankheiten und das Leid einfach verschwinden würden. Das ist meiner Meinung nach eine viel zu vereinfachende und reduktionistische Vorstellung von Krankheiten und ihren Ursachen.
Karin Danielczyk absolvierte nach dem Medizinstudium die Ausbildung zur Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel und an der Akutpsychiatrie des Otto Wagner Spitals. Zum Zeitpunkt des Interviews war sie Psychiaterin in Wien, mittlerweile hat sie ihre fachärztliche Tätigkeit zurückgelegt.
Diagnosemanuale
1952 wurde das erste DSM herausgegeben. Es ist das Diagnostische und Statistische Handbuch psychischer Störungen, ein Klassifikationssystem der American Psychiatrie Association. Jetzt, im Mai 2013 wird das DSM-5 erscheinen; die vierte Ausgabe (DSM-IV) wurde 1994 veröffentlicht und war in einer Revision (DSM-IV-TR) bis zuletzt gültig. Daneben gibt es auch noch die ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems): Das internationale, weltweit anerkannte Klassifikationsmanual der Weltgesundheitsorganisation (WH0) liegt derzeit in ihrer zehnten Fassung (ICD-10) vor, die elfte soll 2015 veröffentlicht werden. Während das DSM sich ausschließlich psychischen Erkrankungen widmet, ist das bei der ICD nur in einem eigenen Kapitel (V) der Fall. Diagnosemanuale in der Psychiatrie können es den Behandelnden ermöglichen, über psychische „Störungen“ zu kommunizieren, über die jeweilige Behandlung zu entscheiden und eine Prognose abzugeben. Außerdem können sie bei Menschen, die ihr Erleben nur schwer einzuordnen vermögen, ein Gefühl der Sicherheit erzeugen: Man ist nicht völlig „verrückt“, sondern hat eine Diagnose, über die man sich verständigen kann. Allerdings kann diese auch als bedrohlich empfunden werden, sie kann zu Stigmatisierung führen und sagt letztlich auch nicht viel über die Prognose für ein einzelnes Individuum aus. Interessant ist im Zusammenhang mit den beiden großen Diagnosemanualen, wie abhängig ,,Krankheiten“ von gesellschaftlichen Aushandlungen sind. So wurde beispielsweise erst im Jahr 1992 Homosexualität in der neu publizierten ICD-10 aus der Liste der psychischen Erkrankungen gestrichen. Und im nun neu veröffentlichten DSM-5 wurde das gern diagnostizierte „Burn-out“ nicht als eigenständige Erkrankung aufgenommen.
Bettina Enzenhofer
Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge Mai 2013.